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3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus | 255
hat mir alles erklärt – ich kann schon allein anfahren – stoppen – Gas geben – schnell
oder langsam fahren und heute bin ich eine Strecke mit 45 miles Geschwindigkeit gefah-
ren – ich finde es herrlich – Mr. Howe sitzt natürlich noch neben mir – so weit bin ich
noch nicht – um es ganz allein zu wagen – wenn es keine anderen Autos gäbe – wäre es
einfach“231
Die Briefe aus Siasconset zeugen von großer Natursehnsucht und einem ambivalen-
ten Verhältnis zur lärmenden Metropole New York. Betrachtet man den Briefwech-
sel der weiteren Jahre sollte sich daran nicht allzu viel ändern: Immer wieder äußerte
Klien ihre Begeisterung für die Stadt, immer wieder aber auch ihre Müdigkeit und
Erschöpfung. Es finden sich damit auch bei Klien vereinzelt zeitgenössische Narra-
tive von Großstadtkritik – vergleiche vor allem die obige Briefstelle aus Siasconset,
in der sie auch von der Wirkung des Lärms respektive der Ruhe auf ihre „Nerven“
spricht. Diese Narrative erscheinen bei Klien allerdings zumeist weniger diskursiv-
theoretisch als vielmehr aus ihrer praktischen Erfahrungswelt argumentiert. Für
Klien bedeutete das hektische Leben in New York einen permanenten Überlebens-
kampf, der sich im Lauf der Jahre verschärfen sollte.
Die Ambivalenz gegenüber den Herausforderungen der Großstadt drückte sich
auch im Werk aus. Die Kunsthistorikerin Marietta Mautner Markhof meint, Klien
habe versucht die erschreckenden Facetten der technischen Zivilisation „durch de-
ren Ästhetisierung in den Griff [zu bekommen], zumal die Struktur der Wolkenkrat-
zer, Brücken und Subwaystationen einer ‚kinetischen‘ Formalisierung ja durchaus
entgegenkam.“232 Dennoch trat die intensive Umsetzung von Stadt und Maschinen-
kultur im Werk ab Mitte der 1930er-Jahre etwas zurück. Im Sommer 1934 reiste
Klien mit ihrer Mutter und ihrer Schwester nach New Mexico und entwickelte da-
bei ein besonderes Interesse für die Kunst der indigenen Bevölkerung.233 New York
betrachtete Klien zu diesem Zeitpunkt immer noch lediglich als Station in ihrem
Lebenslauf. Ihre ökonomische Situation und schließlich die politische Entwicklung
in Europa sollten aber dazu führen, dass die Künstlerin nicht nach Europa zurück-
kehrte, sondern bis zu ihrem Tod 1957 in New York blieb. In den letzten Jahren ihres
Lebens kam Klien in ihrem Werk noch einmal zu einem ihrer Hauptmotive der frü-
hen New Yorker Jahre zurück, zur Subway. Wie sie ihrem Sohn Walter 1950 schrieb,
231 Slg. Pabst, NL Klien, EGK an Anna Klien, Siasconset o. D. [Poststempel 26.7.1930].
232 Mautner Markhof, Erika Giovanna Klien, 44.
233 Mexikanische Einflüsse bzw. die Kunst der Native Americans prägen Kliens eigene Kunst ab den
1930er-Jahren. Das Interesse für den angeblichen ‚Primitivismus‘ bzw. die ‚Ursprünglichkeit‘ der
Kunst von Indigenen war generell Merkmal der künstlerischen Moderne.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463