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| 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche
Diskurse262
Einsamkeit schien für sie aber verbunden mit einer dafür nötigen inneren Haltung
und Stabilität. Seinen Weg, auch im künstlerischen Sinne, bereits gefunden zu ha-
ben, schien Voraussetzung dafür zu sein, ein Leben mit sich und der Kunst, ohne
ständige Anregung von außen, verbringen zu können. Alfred Kubin bestätigte sie in
dieser Auffassung, wie sie ihrer Schwester und dem Vater berichtete:
„Es war sehr befreiend mit Kubin zu sprechen, der viel von meinem Leben wissen wollte
u. ich konnte kaum noch jemandem gegenüber so herausgehen. Auch er hatte gemeint ich
müsse mich losmachen u. ich ginge wohl zu Grunde wenn ich nicht aus der Problematik
heraus käme die ohnedies stark genug in einem selbst ist. Er meinte auch es wäre gut eine
Zeit in die Stadt zu gehen, ich wäre für die Einsamkeit noch zu jung auf die Dauer auch
wegen der äussern Möglichkeiten, ich war so dankbar in ihm einen Freund zu finden. Er
meinte auch mich lange schon zu kennen. So wie es auch mir so vorkam. Und seit ich
weiss nun, dass ich dorthin kann kommt mir das Leben hier nicht mehr so einsam vor.
[…] Ich bin ja so dankbar dass ich hier immer sein kann. Kubin meinte das wenige, den
Mäusebraten, den ich esse, der wird für mich immer da sein.“256
Im Lauf des Jahres 1939 verdichtete sich der Wunsch nach einer dauerhaften An-
siedlung in Taufkirchen. Wieder berichtete sie der Schwester nach einem Wien-
Aufenthalt von ihrer „Stadtmüdigkeit“ und im Mai 1939 formulierte sie erstmals,
sich nun vorstellen zu können, für immer zu bleiben.257 Auch Kubin teilte sie ihren
Entschluss mit:
„[…] bin schon eine Zeit lang hier, aber ich konnte kaum was tun als die Stille aufnehmen
den Duft atmen der Kuckuck ruft den ganzen Tag das Käuzchen in der Nacht – wie furcht-
bar ist die Stadt. Ich möchte nun immer hier leben, ich glaube dass ich es können werde
und das war vielleicht der Sinn in Wien.“258
Immer stärker wurde Taufkirchen in den folgenden Jahren, die zudem vom Beginn
des Zweiten Weltkriegs geprägt wurden, zur emotionalen Heimat. Trotz Klagen über
die Einsamkeit, die oft nur schwer zu ertragen und durch kurze Stadtbesuche in
Schärding oder Passau durchbrochen wurde, scheint der Entschluss der Künstlerin,
sich nach Taufkirchen zurückzuziehen, in ihrer eigenen Einschätzung richtig und für
256 Bilger-Archiv, MB an Ferdinand (Vater) und Irmtraut (Schwester) Bilger, Taufkirchen 24.10.1938.
257 Aus einer Bestätigung der Gemeinde Taufkirchen aus dem Jahr 1948 geht hervor, dass Margret Bil-
ger seit 1936 ihren ordentlichen Wohnsitz in Taufkirchen an der Pram gemeldet hatte. Vgl. Bilger-
Archiv, Bestätigung Gemeinde Taufkirchen 30.7.1948.
258 MB an AK, Taufkirchen 3.5.1939, zit. nach Bilger/Kubin, Briefwechsel, 10.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463