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3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus | 265
liert: Kann etwas erst sein, wenn es ein Wort dafür gibt? Oder anders gefragt: Litten
Menschen auch schon an Neurasthenie, bevor der amerikanische Psychiater George
Miller Beard um 1880 dafür den Begriff der „Neurasthenie“ (er)fand?264
Joachim Radkau, der sich als einer der ersten Historiker im deutschsprachigen
Raum mit dem Phänomen der Neurasthenie auseinandersetzte, legte meines Er-
achtens sehr überzeugend dar, dass es sich bei der Neurasthenie nicht um ein rein
kulturelles Konstrukt, sondern durchaus um eine faktisch erlebte Leidenserfahrung
handelt, dass aber Diagnostik, Ätiologie, Verlauf der Erkrankung und Therapie eine
jeweilige zeitgebundene Einbettung aufweisen.265 Im Fall der Neurasthenie lässt sich
sogar von einem eigenen damit verbundenen Lifestyle sprechen, der seine markan-
teste Ausprägung in der Bäder- und Sanatorienkultur der Jahrhundertwende hatte.
NeurasthenikerIn zu sein, lag im Puls der Zeit und das nicht nur im realen Leben:
Auch in zahlreichen Romanen findet sich die Kultur der Neurasthenie, vom „Zau-
berberg“ Thomas Manns bis hin zu Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“.
Auch die BewohnerInnen von Perle, Alfred Kubins Traumreich-Hauptstadt aus dem
Roman „Die anderen Seite“, waren selbstredend überwiegend NeurasthenikerInnen:
„Perle liegt auf dem gleichen Breitengrad wie München, aber das Klima ist derartig mild,
daß sich selbst die nervösesten Menschen in kurzer Zeit außerordentlich wohl fühlen. Ge-
hörte doch ein großer Teil der Traumleute früher zu den ständigen Gästen der Sanatorien
und Heilanstalten.“266
Wenn Kubin hier Klima und Sanatorien anspricht, stellt sich auch die Frage nach
den Ursachen der Neurasthenie. Viele Sanatorien warben mit ihrer ruhigen Lage in
abgelegenen Regionen außerhalb von Großstädten. Impliziert ist damit ganz klar,
dass Lärm, Geschwindigkeit, Hektik, alles verkörpert im neuen Typus der Groß-
stadt, als zentrale Ursachen des Nervenleidens zu sehen seien. Belegt werden konnte
dies selbstverständlich nie, und es gab durchaus Zweifel und Kritik an der „Mo-
dernitätsthese“. George M. Beard gehörte in jedem Fall zu deren Anhängern. In
264 Gemeinhin gilt der amerikanische Mediziner George M. Beard als „Erfinder“ des Neurasthenie-
Begriffs. Zweifellos wurde der Begriff („neurasthenia“) auch schon zuvor in verschiedenen Zu-
sammenhängen verwendet. Beard war es, der damit ein bestimmtes, von ihm als neu dargestelltes
Krankheitsbild umriss, das sich im Auftreten einer Vielzahl teils sehr unspezifischer Symptome
zeigte, die Beard unter dem Begriff der „Nervenschwäche“ oder Neurasthenie zusammenfasste.
Sein erster Aufsatz, der den Begriff im Titel trug, erschien 1869, 1881 folgte die stärker wahrge-
nommene Monographie American Nervousness. Its Causes and Consequences. A supplement to
Nervous Exhaustion (Neurasthenia), New York 1881.
265 Vgl. Radkau, Zeitalter der Nervosität, 13 ff.
266 Kubin, Die andere Seite, 25.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463