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3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert | 273
Geistes besonders zu pflegen“, zu verstehen ist.287 Als zeitgenössische Definition des
späten 19.
Jahrhunderts mag jene dienen, die der Okkultismusforscher und Schrift-
steller Carl Kiesewetter in seiner 1891 erschienenen „Geschichte des Neueren Oc-
cultismus“ gegeben hat:
„Ich verstehe unter occulten Vorgängen alle jene von der offiziellen Wissenschaft noch
nicht allgemein anerkannten Erscheinungen des Natur- und Seelenlebens, deren Ursa-
chen den Sinnen verborgene, occulte, sind, und unter Occultismus die theoretische und
praktische Beschäftigung mit diesen Thatsachen, resp. deren allseitige Erforschung.“288
Für Kiesewetter war Okkultismus als „Kollektivbezeichnung alles in die übersinn-
liche Sphäre Gehörenden“289 am besten geeignet. Er wandte sich damit gegen Carl
du Prel, der den „Sammelnamen Spiritismus“ befürwortete, der für Kiesewetter nur
einen Teil des Gesamtphänomens bezeichnete, nämlich „Vorgänge, deren Ursache
nicht im belebten Organismus zu suchen ist“. 290 Den zeitgenössisch weit verbreite-
ten Begriff der „Mystik“, den beispielsweise auch Alfred Kubin verwendete, lehnte
Kiesewetter ebenfalls ab, weil dieser bereits besetzt sei durch eine spezielle religi-
öse Ausrichtung. Nur der Vollständigkeit halber sei noch darauf verwiesen, dass
auch der Begriff der „Magie“ Kiesewetter unzureichend erschien für die Gesamt-
heit der „occulten“ Vorgänge. Kiesewetter positionierte den Okkultismus außerhalb
des Religiösen und wies ihm eine prinzipielle Konfessionslosigkeit zu,291 was – wie
noch zu zeigen sein wird – eine Kompatibilität okkulter Interessen mit verschiede-
nen konfessionellen oder religiösen Lehren ermöglichte. Die Debatte zeigt, dass es
zeitgenössisch keine übereinstimmenden Definitionen und Abgrenzungen für jene
Begrifflichkeiten gab, die sich im weiten Sinne unerklärbaren, übersinnlichen, als
Geheimwissen markierten Phänomenen widmeten.
Okkulte Praktiken begleiten die Menschheitsgeschichte. Das hier interessierende
Phänomen setzte als moderner Okkultismus verstärkt im 19. Jahrhundert ein, als
sich verschiedene Bewegungen, der okkulten Idee zufolge oft als Geheimgesell-
schaften oder Geheimorden organisiert, mit den mehr oder minder rätselhaften
Phänomenen des Seins auseinandersetzten. Hatten die in Europa etablierten Reli-
287 Brockhaus Wissensservice, Stichwort Okkultismus, abrufbar unter https://brockhaus.de/ecs/enzy/
article/okkultismus (2.9.2019).
288 Carl Kiesewetter, Geschichte des neueren Occultismus. Geheimwissenschaftliche Systeme von Ag-
rippa von Nettesheym bis zu Carl du Prel, Leipzig 1891, XI.
289 Kiesewetter, Geschichte des neueren Occultismus, XII.
290 Kiesewetter, Geschichte des neueren Occultismus, XII.
291 Kiesewetter, Geschichte des neueren Occultismus, XII.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463