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| 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche
Diskurse280
Es bleibt bis zu einem gewissen Grad rätselhaft, inwiefern Kubin der pseudowissen-
schaftlichen Lanz von Liebenfels’schen Theorie der „Menschenäfflinge“ ernsthaft an-
heimfallen konnte, fasziniert war er davon in jedem Fall und von einem starken Ein-
fluss durch Lanz von Liebenfels auf Kubins Werk ist unbedingt auszugehen.316 Nicht
belegbar, und meines Erachtens auch nicht wahrscheinlich, ist hingegen eine gele-
gentlich behauptete Mitgliedschaft Kubins im ariosophischen Neutempler-Orden.317
Neben den Werken der Ariosophen und TheosophInnen las Kubin zahlreiche
Schriften, die sich mit parapsychologischen Phänomenen auseinandersetzen, Bü-
cher zur christlichen und jüdischen Religion und/oder Mystik und schließlich viele
Werke, die sich mit indischer Geistesgeschichte und dem Buddhismus beschäfti-
gen. Die erste Begegnung damit fand vermutlich über die Lektüre Schopenhauers
statt. Schopenhauer, der in den vedischen Upanischaden, einer Sammlung indischer
Weisheitssprüche, ein Pendant zu seiner eigenen philosophischen Welt sah und da-
rauf auch mehrfach in seinem Werk verwies,318 stellte für Kubin, gemäß seiner auto-
biographischen Darstellung, die erste ihn nachhaltig beeinflussende Lektüre dar, zu
der er schon vor seinem Umzug nach München Kontakt gefunden hatte. Schopen-
hauer ist insofern von Relevanz, als dessen Auseinandersetzung mit indischer Philo-
sophie als wichtige Wegmarke gilt für die weitere Verbreitung und Anziehungskraft
buddhistischer und/oder hinduistischer Literatur in den Intellektuellen- und Künst-
lerkreisen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts.319
316 Der Einfluss der „Theozoologie“ auf Kubin wurde in dieser Studie bereits in Bezug auf den Ge-
schlechterdiskurs benannt. Eine ausführlichere Untersuchung, auch in Bezug auf Kubins Roman
„Die andere Seite“ erscheint lohnenswert. Die beiden Schlüsselbegriffe des Romans, „Demiurg“
und „Zwitter“, nehmen in der Lanz von Liebenfels’schen „Theozoologie“ jedenfalls eine zentrale
Rolle ein, insofern als dass bei Liebenfels die Aufhebung der Geschlechter und das Aufgehen in
„zwitterhafte“ Engelwesen als Wiederherstellung einer durch Sodomie zerstörten alten göttlichen
Ordnung erscheint.
317 An verschiedenen Stellen wird in der Literatur – darunter auch in der Internet-Enzyklopädie Wiki-
pedia, Eintrag Lanz von Liebenfels – darauf verwiesen, dass Kubin wie sein Freund Herzmanovsky-
Orlando Mitglied des Neutempler-Ordens gewesen sei. Ein Beleg dafür kann im Fall von Kubin
nicht vorgelegt werden. Vgl. die (allerdings unvollständige) Liste der Ordensmitglieder in: Hiero-
nimus, Lanz von Liebenfels, 26 f.
318 Vgl. beispielsweise Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung. Erster Band, XII,
Wiesbaden 1972 (EA 1819): „Ist er [Anm.: der Leser] aber gar noch der Wohlthat der Veda’s theil-
haft geworden, deren uns durch die Upanischaden eröffneter Zugang, in meinen Augen, der größte
Vorzug ist, den dieses noch junge Jahrhundert vor den früheren aufzuweisen hat, indem ich ver-
muthe, daß der Einfluß der Sanskrit-Literatur nicht weniger tief eingreifen wird, als im 15. Jahr-
hundert die Wiederbelebung der Griechischen.“
319 Vgl. Martin Baumann, „Importierte“ Religionen: das Beispiel Buddhismus, in: Diethart Kerbs/Jür-
gen Reulecke (Hg.), Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880–1933, Wuppertal 1998,
513–522, 513.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463