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3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert | 287
vor allem Gustav Meyrinks Roman „Der Golem“, in dem, inspiriert von Éliphas
Lévi, sowohl Kabbala als auch Tarot eine zentrale Rolle spielen.340
Auch Aloys Wach studierte Lévis Werk, das in den 1920er-Jahren auch auf
Deutsch erschienen war.341 Die Lektüre Levis habe ihm bestätigt, was er als Kind
instinktiv gewusst habe, notierte er in seinem Tagebuch:
„[…] nachdem ich viel Eliphas Levi studierte. […] Aus dieser Zeit datiert mein instinktives
Wissen, dass Wort und Zahl zusammenhängen; dass das Wort, der Buchstabe, eine Kraft
ist, mit der man operieren muss. Dass Zahl und Licht etwas Gemeinsames besitzen. Dass
Licht Träger von Weisheit und von Gefühl ist. Dass es atmende, lebende Krystalle gibt.
Dass es keine Entfernungen gibt; dass das unnennbare Weite überwunden werden kann.
Und dass alle Weite, alle Räume, alle scheinbar festen Körper untereinander in liebevoller
lebendiger Beziehung stehen, korrespondieren. Erkläre das, wer es kann. Tatsache ist, dass
ich als Kind das erlebt habe, gesehen habe. Und mich bildhaft daran erinnern kann.“342
Auch ein erhaltenes Schreiben Gustav Meyrinks an Wach belegt dessen Interesse
für die kabbalistische Zahlenmystik. Offensichtlich hatte Wach Meyrink nach In-
formationen und Literatur gefragt. Im Dezember 1925 erhielt er folgende Antwort
Meyrinks, der zwar mit seinem „Golem“-Roman die Kabbala und den Tarot im
deutschsprachigen Roman populär gemacht hatte, selbst aber offenbar wenig mit
dem Bereich der Zahlenmystik anfangen konnte:
„Sehr geehrter Herr Wachelmayr! Die Zahlenmystik ist ein direktes Kapitel der Kabala.
Das Buch heißt Sepher Jetsira.343 Ob es deutsch existiert, weiss ich nicht. Englisch hat es
Winn Westcott herausgegeben. Ich habe nie etwas damit anfangen können. In der ‚Kabala‘
340 Gustav Meyrink, Der Golem, Frankfurt am Main 2011 [EA 1915]; Zur Bedeutung des Tarot in
Meyrinks Golem vgl. Heidemarie Oehm, „Der Golem“ (1915) von Gustav Meyrink, in: Winfried
Freund (Hg.), Spiegel im dunklen Wort. Analysen zur Prosa des frühen 20.
Jahrhunderts, Frankfurt
am Main, Bern 1983, 177–203.
341 Éliphas Lévi, Geschichte der Magie, 2 Bde., Wien, München, Leipzig 1926; Éliphas Lévi, Dogma
und Ritual der hohen Magie, 2 Bde., Wien, München, Leipzig 1927.
342 Aloys Wach, Biographische Notizen 1929 (mit Nachträgen 1931), Einträge 10.8.1929 u. 15.7.1929.
343 „Sefer Jezira“ ist eine antike Schrift, die als Hauptquelle der mittelalterlichen Kabbala diente. Joseph
Dan definiert sie als „kosmologische wissenschaftliche Abhandlung, die beschreibt wie der Vor-
gang der Schöpfung vornehmlich durch die Kraft der Buchstaben des Alphabets bewirkt wurde.“
Das „Sefer Jezira“ präsentiert dabei ein von anderen talmudischen oder biblischen Quellen diffe-
rierendes System der Kosmogonie, das Universum wurde demnach von 32 „wundersamen Pfaden
der Weisheit“ gehauen. Die Pfade werden als 10 Sefirot und die 22 Buchstaben des hebräischen
Alphabets dargestellt. Vgl. Dan, Kabbala, 29 ff.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463