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| 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche
Diskurse292
von einem pensionierten Postmeister namens Carl Schappeller erworben, der fünf
Jahrzehnte zuvor, im Jahr 1875, im Armenhaus des Ortes Aurolzmünster zur Welt
gekommen war. Schappeller war bekannt als „Erfinder“, der sich mit Theorien zur
Gewinnung neuer Energieformen beschäftigte. 1919 frühzeitig aus dem Postdienst
entlassen und ohne akademische Ausbildung reihte er sich damit in den bereits be-
schriebenen zeitgenössischen Diskurs um unsichtbare Energien ein, der geprägt war
von zahlreichen neuen technisch-naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, aber auch
von einer Vielzahl komplexer pseudowissenschaftlicher Welterklärungsmodelle.
Eine der populärsten Theorien in diesem Kontext war zweifellos Hanns Hörbigers
Welteislehre.358
Carl Schappeller vermeinte durch physikalische Entdeckungen einer vermeintli-
chen „Urkraft“ oder „Raumkraft“ auf der Spur zu sein, eine Art nicht versiegender
Energieform. 1924 erschienen die ersten Schlagzeilen über Schappellers angebliche
Entdeckungen. Noch ist nicht von „Urkraft“ die Rede, sondern von der angeblichen
Möglichkeit, Elektrizität drahtlos zu übermitteln.359 Schappeller fand finanzkräftige
Unterstützer, die für ihn das heruntergekommene Schloss in Aurolzmünster um die
Summe von 250.000 Schilling kauften.360 Schappellers Unterstützerkreis fand sich
in den ersten Jahren seiner Aktivitäten beinahe ausschließlich im katholisch-christ-
lichsozialen Umfeld der Ersten Republik. Einer seiner Mitarbeiter, der Ingenieur
Louis Gföllner, war ein Neffe des Linzer Bischofs Johannes Maria Gföllner.361 Schap-
pellers engagiertester Mitstreiter war Prälat Aemilian Schöpfer, Gründer des Tyro-
lia-Verlages und christlichsozialer Nationalratsabgeordneter der Ersten Republik,
der seine politischen und gesellschaftlichen Kontakte über Jahre hinweg zugunsten
358 Vgl. Christina Wessely, Welteis. Eine wahre Geschichte, Berlin 2013. Wesselys Studie bettet Hörbi-
gers Welteislehre eindrucksvoll in den kulturellen Diskurs der Zeit und bietet damit ein interessan-
tes Kapitel österreichischer Wissenschafts- aber auch Kulturgeschichte. In vielen Grundlinien lässt
sich ein Vergleich zu Schappeller ziehen, wenngleich dessen Theorien einerseits weniger Populari-
tät erlangten und andererseits wohl noch stärker wissenschaftliche Plausibilität vermissen ließen.
359 Linzer Tagespost, 5.11.1924 (Zeitungsauschnitt auch in OÖLA, NL Schappeller, Sch. 1)
360 Zum Kauf des Schlosses und zur weiteren Unterstützung Schappellers wurde eine Gesellschaft ge-
gründet, der neben Aemilian Schöpfer als Hauptgeldgeber der Lienzer Fabrikant Eduard Solderer,
der Salzburger Dompfarrer und christlichsoziale Bundesrat Daniel Etter und der Architekt Paul
Geppert aus Salzburg angehörten. Vgl. Bernhard Iglhauser, Genie oder Scharlatan? Die unglaub-
liche Karriere des Carl Schappeller, in: Der Bundschuh 8 (2005), 44–53, 45 sowie auch OÖLA, NL
Schappeller, Sch. 11, Briefwechsel Schöpfer-Schappeller.
361 In einem Brief des Schappeller-Mitarbeiters Oskar Bayer heißt es über Louis Gföllner: „ein Neffe
des Herrn Bischof Gföllner von Linz, wo auch Letzter an der Erfindung des Herrn Schappeller in
phylosophischer Beziehung lebhaftes Interesse nimmt“. Da der Brief nur als Fragment eines Durch-
schlags erhalten ist, bleiben Datum und Adressat unklar, es kann aber davon ausgegangen werden,
dass der Brief an Aemilian Schöpfer gerichtet war. OÖLA, NL Schappeller, Sch. 9.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463