Seite - 305 - in Zeitwesen - Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
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3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert | 305
Im Zentrum des visionierten Männer-Ordens stand allerdings eine Frau – Carl
Schappellers bereits erwähnte Tochter Anna. Wach beschrieb sie als fragile, von der
Öffentlichkeit und dem Rummel in Aurolzmünster zurückgezogene (ferngehaltene),
kindlich anmutende Frau, deren „Visionen“ im Grabungsunternehmen zentrale Be-
deutung zugeschrieben wurden.
„Die Tochter steht am Fenster im zweiten Stock. Seit Jahren hat sie das Haus nicht ver-
lassen. Nie geht sie in die Sonne. Menschenscheu und etwas sonderbar ist sie. Hier ist
alles – irgendwie so merkwürdig gläsern, es ist quälend. Wie aus Kubins Bildern – astral
verrutscht, halb wirklich – halb gespensternd.“393
Ihr Orakel sei ein alter abgegriffener Teddybär, den sie immer bei sich habe, sie sehe
Gnomen und Heinzelmännchen (die seit Grabungsbeginn auch mit Gold spielten).
Einmal traf Wach sie persönlich an, ihre Erscheinung habe ihn erschüttert.
„Eine leuchtende Blondine, Gesicht wie ein blinkendes, lebloses Email, maskenhaft – nicht
groß in himmelblauem Samtkleid, ebensolcher Samtmütze mit großen Silbersternen. […]
Ein Blick, der Augen der Frau direkt trifft, bewegt – nicht menschlich, trifft wie Kurz-
schluß: unergründliches Schwarz riesiger Pupillen, das bodenlose Weite bloßlegt: einen
Abgrund, Raum, Ahnung uferlosen Absturzes ins Irrationale.“394
Die Begegnung mit Anna Schappeller setzte in Wach weitere Zweifel frei. Diese
bezogen sich freilich nicht grundsätzlich auf die Fähigkeit der Hellsichtigkeit oder
ähnliche Phänomene, vielmehr verwies er auch an dieser Stelle auf seine beiden
Leitbilder Éliphas Lévi und Gustav Meyrink.395 Anna Schappeller scheint Wach viel-
393 Wach, Schin, der Herr der Zahl 22, 83. Der Verweis auf Kubin an dieser Stelle erscheint interessant
und führt zur Frage nach Kubins Positionierung zu Schappeller. Kubin lebte ebenfalls im Innvier-
tel, also nicht weit von Aurolzmünster entfernt, war über die Innviertler Künstlergilde auch mit
Wach verbunden und hatte zweifellos Interesse an esoterisch-okkulten Ereignissen. Dennoch gibt
es keinerlei Hinweise auf etwaige Kontakte Kubins mit Schappeller. Wachs Buch „Schin, der Herr
der Zahl 22“ ist in der Kubin-Bibliothek vorhanden (Inv.-Nr. 2534).
394 Wach, Schin, der Herr der Zahl 22, 92.
395 Wach, Schin, der Herr der Zahl 22, 94: „Wer erinnert sich nicht an Gustav Meyrink: seinen ‚Engel
vom westlichen Fenster‘ – wenn Dinge geschehen, wie sie in der Innviertler Kleinstadt sich abspiel-
ten – Meyrink, ein hervorragender Kenner des wirklichen okkulten Gebietes: im ‚Grünen Gesicht‘
kleidet er das Grundproblem aller Fragen um Medien in eine geniale Geschichte – und warnt! Die
reale Tatsache hinter dem Gleichnis lese man nach in Abbé Constant: ‚Dogma der Hohen Magie‘,
wo die Frage restlos geklärt ist.“
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463