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| 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum
Nationalsozialismus316
Courbet selbst in der Zeit der revolutionären Pariser Kommune verschiedene politi-
sche Ämter. Nach der Niederschlagung der Kommune wurde er inhaftiert und floh
schließlich ins Exil, wo er 1877 starb: Für Kubin der Beweis dafür, dass es immer
ein schlechtes Ende nehme, wenn ein Künstler sich in „politische Dinge“ einmische.
Kubins Position war für das 19. und frühe 20. Jahrhundert keine Ausnahme, be-
gann sich aber mit dem Vormarsch der Avantgarde zu ändern. So zeigt sich für Ve-
rena Krieger auch Courbet und sein „oppositioneller Habitus“ als Vorausnahme der
Avantgarde des 20. Jahrhunderts.11 Tatsächlich beanspruchten zahlreiche avantgar-
distische Strömungen des frühen 20. Jahrhunderts genau jene von Courbet postu-
lierte Vorreiterrolle des Künstlers im gesellschaftlichen Fortschritt und politischen
Reformprozess für sich, wobei – und hier möchte ich Georg Bollenbeck dezidiert
zustimmen – diese von einzelnen Vertretern der Avantgarde auch in einem „auto-
ritären und protofaschistischen“ Sinn interpretiert wurde, vergleiche nur beispiels-
weise die italienischen Futuristen.12
Die Avantgarde verabschiedete sich jedenfalls von einer Vorstellung des 19.
Jahr-
hunderts, in dem die Erhabenheit von Kunst und Kultur, und damit verbunden auch
die Distanzierung von der politischen Welt, im Bildungsbürgertum fest verankert
war. Georg Bollenbeck verweist auf die Bedeutungszuschreibung der Leitbegriffe
von Bildung und Kultur im Zuge der europäischen Aufklärung. Die Idee „einer
sich zweckfrei im Medium der Kultur bildenden Individualität“ stand dabei klar
im Mittelpunkt und sollte verteidigt werden.13 Kunst und Kultur sollten der Bil-
dung, Verfeinerung und Kultivierung des Individuums und damit einer allgemeinen
„Zivilisierung“ der Gesellschaft dienen. Aber auch der Avantgarde lagen Konzepte
zugrunde, die einem zu direkten Verhältnis von Kunst und Politik entgegenstanden,
allen voran die Vorstellung von der Zweckfreiheit der Kunst: L’art pour l’art. Diesem
Gedanken folgend beziehe die Kunst ihre Existenzberechtigung prinzipiell aus sich
heraus und müsse somit keinerlei weiterem Zweck dienen – damit auch keinem po-
litischen – wie hehr oder heilig dieser auch immer sei.14
Auch nationale Konzepte und Prägungen beeinflussten die Vorstellung von der
(un-)politischen Natur des Künstlers. So lassen sich Thomas Manns „Betrachtun-
gen eines Unpolitischen“, entstanden während der Jahre des Ersten Weltkriegs und
11 Krieger, Was ist ein Künstler, 68.
12 Vgl. Georg Bollenbeck, Tradition. Avantgarde. Reaktion. Deutsche Kontroversen um die kulturelle
Moderne 1880–1945, Frankfurt am Main 1999, 36.
13 Bollenbeck, Tradition, 19.
14 Zu „L’art pour l’art“ vgl. u.a. Wolfgang Ullrich, Was war Kunst? Biographien eines Begriffs, Frank-
furt 2005, 124 ff; Peter Gay, Die Moderne. Eine Geschichte des Aufbruchs, Frankfurt am Main
2008, 74 ff.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463