Seite - 317 - in Zeitwesen - Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
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4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 | 317
erstveröffentlicht 1918, nur vor der Folie eines antifranzösischen Deutschtums
verstehen. Dass sich „Geist“ und „Politik“ nicht vertrage, wie Mann wortgewaltig
in seinem Essay darlegte, war der Versuch, einen Unterschied zwischen einem auf
„Kultur, Seele, Freiheit, Kunst“ beruhenden Deutschtum und einer auf Werten der
französischen Revolution („Zivilisation, Gesellschaft, Stimmrecht, Literatur“) basie-
renden vermeintlich verwirrten Ideologie herzustellen.15 Das von Mann postulierte
Nicht-Politiker-Sein des Künstlers ist damit weniger als allgemeingültig postulierte
„biographische Formel“ eines bestimmten Künstlertypus zu verstehen als vielmehr
einem nationalen und in seinem Kern antidemokratischen Bekenntnis Manns zu-
zuordnen, von dem er sich spätestens in den 1920er-Jahren immer stärker entfernte.
Manns Betrachtungen zeigen aber auch die Notwendigkeit, stärker in den Fokus
zu nehmen, was unter dem Begriff „politisch“ – und vice versa damit auch „unpo-
litisch“ – im jeweils zeitgenössischen und sozialen Kontext überhaupt verstanden
wurde. In Bezug auf die 1920er- und 1930er-Jahre möchte ich dazu Carl Schmitts
„Der Begriff des Politischen“ heranziehen.16 Der Staatsrechtler Schmitt mit einem
Naheverhältnis zur Münchener künstlerischen Bohème ebenso wie zur aufstreben-
den nationalsozialistischen Bewegung legte in der Schrift seine grundsätzlichen
Überlegungen zum Verständnis des „Politischen“ vor. Ausgehend von der für ihn
nicht überzeugenden traditionellen Gleichsetzung von „politisch“ mit „staatlich“
und der gängigen Praxis den Begriff „politisch“ gleichbedeutend mit „parteipoli-
tisch“ zu verwenden,17 entwickelte Schmitt ein Definitionsmodell, in dem er als
zentrales Kriterium des Politischen die Unterscheidung von Freund und Feind
einführte. Es ist hier nicht der Ort diesen Ansatz näher zu besprechen,18 vielmehr
möchte ich darauf verweisen, wovon Schmitt sich abzuheben versuchte: die Gleich-
setzung von „politisch“ mit einerseits „staatlich“ und andererseits „parteipolitisch“.
Eine solche Gleichsetzung beziehungsweise ein Verständnis von „politisch“ in genau
diesem Sinne scheint mir ein zentraler Schlüssel für das Verständnis der „unpo-
litischen“ Attitüde vieler ZeitgenossInnen des frühen 20. Jahrhunderts und damit
auch der hier untersuchten KünstlerInnen zu sein. Das heißt, der oftmalige Verweis
darauf, „unpolitisch“ gewesen zu sein, bedeutete oft einfach nur, sich für keine Partei
oder politische Bewegung engagiert zu haben, musste aber im Gegenzug nicht hei-
ßen, kein gesellschaftspolitisches Bewusstsein oder Engagement besessen zu haben.
15 Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, Frankfurt am Main 2012 [EA 1918], 52.
16 Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien,
Berlin 1963.
17 Vgl. Schmitt, Begriff des Politischen, 20 ff, 31.
18 Vgl. als jüngeren Beitrag, der auf Theorie und Debatte um Schmitt Bezug nimmt: Jan Assmann,
Totale Religion. Ursprünge und Formen puritanischer Verschärfung, Wien 2016, 112–118.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463