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| 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum
Nationalsozialismus318
Die politische Entwicklung in Europa im 20.
Jahrhundert forderte die bestehenden
Auffassungen von der gesellschaftspolitischen Rolle des Künstlers/der Künstlerin je-
denfalls klar heraus. Eine vornehmlich „unpolitische“ Selbstsicht, wie diese auch im-
mer konkret verstanden wurde, ließ sich immer schwieriger aufrechterhalten, Krieg
und autoritäre Regime griffen in das Leben direkt ein. Folgerichtig urteilt Anton Pe-
linka in seiner Analyse zu der von ihm so bezeichneten „unpolitischen Kultur“ der
österreichischen Zwischenkriegszeit: „Kultur und Politik waren, sie sind miteinander
verflochten. Versuche wie die von Stefan Zweig und Thomas Mann, sich in bestimm-
ten Phasen ihres Lebens als ‚Künstler‘ und daher ‚unpolitisch‘ aus der Politik wegzu-
stehlen, waren eine Flucht aus der Verantwortung und vor der Einsicht in die Unver-
meidlichkeit politischer Instrumentalisierung und damit Politisierung von Kultur.“19
Zieht man die in dieser Arbeit diskutierte Wirkmächtigkeit auto/biographischer
Selbstbilder von KünstlerInnen hinzu, lässt sich dazu ergänzen, dass es sich bei dem
geschilderten Verhalten nicht um ein einfaches „Wegstehlen aus der Politik“ han-
delte. Vielmehr basierte dieses auf einem biographischen Selbstverständnis, in dieser
Sphäre grundsätzlich nicht beheimatet zu sein. Der von Pelinka dafür zitierte Stefan
Zweig vertrat dabei eine ganz ähnliche Haltung wie Alfred Kubin, nämlich Kunst und
Politik als inkompatibel zu verstehen.20 Und so blieb das vermeintlich „unpolitische“
Selbstverständnis auch bei jenen KünstlerInnen noch nachhaltig bestehen, denen die
politischen Gegebenheiten der Zeit ein solches schon längst nicht mehr ermöglichten
und deren konkretes Verhalten längst nicht mehr unpolitisch war.
Es bestand somit im frühen 20. Jahrhundert ein Nebeneinander unterschiedli-
cher Konzepte der politischen Rolle des Künstlers/der Künstlerin: Zum einen exis-
tierte das in seiner Bedeutung zwar schwindende, zweifellos aber noch wirksame
Konzept der Aufklärung, die in der Kunst ein der politischen Realität enthobenes
anzustrebendes Ideal sah. In der Décadence-Haltung der Jahrhundertwende wurde
dieses Konzept ins Extrem gesteigert. „Fluchträume“ für KünstlerInnen boten eine
utopische Alternative zur realen und damit auch zur politischen Welt, für die Ableh-
nung und Verachtung empfunden wurde.21 Auf der anderen Seite entwickelten sich
avantgardistische Konzepte, die den Künstler in einer zentralen Position hinsicht-
lich des gesellschaftlichen Wandels sahen. Die Legende vom unpolitischen Küns
tler
(in Anlehnung an Ernst Kris) begann zu bröckeln, das zeigen die Biographien je-
ner Künstlerinnen und Künstler, die in den Jahren der Zwischenkriegszeit immer
19 Pelinka, Gescheiterte Republik, 32.
20 Vgl. dazu auch den Briefwechsel der beiden Künstler: Alfred Kubin – Stefan Zweig. Briefwechsel
1909–1937. Hg. von Franz Hamminger/Klemens Renoldner, Schärding 2015.
21 Vgl. dazu auch Bollenbeck, Tradition, 119 ff.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463