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| 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum
Nationalsozialismus322
„Zuvor allerdings ist noch die Barriere der ‚neuerlichen Musterung der gänzlich Untaug-
lichen‘ – (welche Ironie!) zu überspringen. – Aber zu etwas sind, wie man sieht – kranke
Nerven auch gut; – und ich habe 20 Jahre immer darauf geschimpft.“32
Die neuerliche Musterung brachte für Kubin die endgültige Befreiung von der Angst
eingezogen zu werden, die „kranken Nerven“ blieben:
„Bei der vorgestrigen Nachmusterung wurde ich frei, d.h. sogar gänzlich aus den Land-
sturmlisten gelöscht, d.h. für alle Kriege und Musterungen brauche ich nicht mehr zu
erscheinen, – schade daß man mir nicht auch meine kranken Nerven abgenommen hat.“33
Kubin hatte von Beginn an nicht in den anfänglichen Jubel und Taumel eingestimmt,
der bei vielen seiner Künstlerkollegen 1914 ausgebrochen war. Eingebettet in einen
kulturpessimistischen Diskurs, der vor allem im deutschen Kaiserreich virulent ge-
wesen war, aber auch die österreichische Fin-de-Siècle-Kultur geprägt hatte, sahen
viele Künstler den Krieg als Möglichkeit zur Katharsis, als „erlösende Perspektive
für die Kunst“.34 Als Künstler und Mensch, dem nichts wichtiger war als äußerliche
Ruhe, die er als Notwendigkeit für sein Arbeiten betrachtete, konnte bei Kubin ein
Krieg aber nur schwer Euphorie auslösen. Nur in wenigen Aussagen scheint Kubin
dem zeitgenössischen Diskurs, der dem Krieg das Potential zur Veränderung sowie
neue Möglichkeiten schöpferischer Motivation zuschrieb, verhaftet. Im November
1914 schrieb er an Herzmanovsky-Orlando:
„Der Krieg ist ja natürlich in seinem Verlauf und Folgen schöpferisch im höchsten Grad.
Aber ich kann mich darüber gar nicht freuen, solange die Schreckensdinge vor meiner
Seele streiten.“35
Eine ähnlich ambivalente Haltung findet sich in der Korrespondenz mit Salomo
Friedländer-Mynona, wie hier in einem Brief von 1916:
32 AK an Reinhard Piper, Wernstein 10.10.1915, zit. nach Alfred Kubin/Reinhard Piper, Briefwechsel
1907–1953. Hg. von Marcel Illetschko/Michaela Hirsch, München 2010, 53.
33 AK an Fritz Herzmanovsky-Orlando, Zwickledt 17.10.1915, zit. nach Herzmanovsky-Orlando,
Briefwechsel, 131.
34 Segal, Krieg als erlösende Perspektive.
35 AK an Fritz Herzmanovsky-Orlando, Zwickledt 25.11.1914, zit. nach Herzmanovsky-Orlando,
Briefwechsel, 91.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463