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4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie | 325
Es wäre nicht Kubin, hätten ihn nicht neben der allgemeinen besorgniserregen-
den politischen Lage eigene, praktische Probleme, die sein künstlerisches Arbeiten
bedrohten, ebenso sehr beschäftigt. Als spezielles Problem erwies sich für ihn zu je-
ner Zeit das drohende Versiegen einer wichtigen Quelle, nämlich das nahende Ende
seines bevorzugten Zeichenpapiers. An Herzmanovsky-Orlando schrieb er:
„Privat beschäftigt mich jetzt das rapide zu-ende-gehen meines hundertjährigen herrli-
chen Zeichenpapieres. (Noch 23 Halbbogen dieses k.
k. mährischen Bütten habe ich noch;
diese staatliche Papierfabrik ist längst niedergebrannt, existiert nicht mehr) – das gibt eine
einschneidende Änderung für mich –“43
Kubin hatte jahrelang vorzugsweise altes Katasterpapier als Zeichenpapier genutzt.
Wenn auch nicht in direktem Zusammenhang stehend – nach Kubins Aussage exis-
tierte die Produktion dieses Papiers schon seit längerer Zeit nicht mehr – kann der
Verlust der alten k. u. k. Katasterbögen fast sinnbildlich für das Ende (s)einer Epo-
che betrachtet werden. Auch andere materielle Einschränkungen erschwerten das
Künstlerleben, vor allem die mit den Kriegsjahren immer schwieriger werdende
Versorgung mit Heiz-, Beleuchtungs- und natürlich Nahrungsmitteln.
Zum nationalistischen Diskurs während des Ersten Weltkriegs ist in Kubins Aus-
sagen keine Distanz erkennbar. Ganz im Gegenteil ist vor allem seine Korrespon-
denz mit Herzmanovsky-Orlando von platten propagandistischen und rassistischen
Stereotypen geprägt. Besonders richtete sich Kubins Aversion gegen den Kriegsfeind
England:
„Soviel scheint mir festzustehen, die heutigen Engländer sind die dämonischen Karika-
turen – die Affen der Deutschen! – in ihrer Civilisation, Ordnung, Art, Form, Religion,
in allem bis ins kleinste spiegeln sie verzerrtes abgewichenes Deutschtum, – das klingt
fabelhaft: Alles Geheimnis der Zukunft scheint mir, – (allgemein betrachtet) heute bei
dem Deutschen zu liegen. – Das englische Ideal, der menschlichen Schönheit z.Bsp. ist
vollkommen leer und spiegelhaft – nichts wie Satan! Wahrscheinlich, nehme ich an war
der deutsche lebendige Volksgeist (Michael)44 in größter Gefahr verschlungen und zerfa-
43 AK an Fritz Herzmanovsky-Orlando, Zwickledt 6.11.1914, zit. nach Herzmanovsky-Orlando,
Briefwechsel, 86.
44 Der Zusammenhang zwischen „deutschem Volksgeist“ und dem Erzengel Michael verweist ver-
mutlich auf eine Rezeption Rudolf Steiners. In mehreren Vorträgen nach Ausbruch des Ersten
Weltkriegs postulierte Steiner den Erzengel Michael als „führenden Geist des Zeitalters“ und ver-
knüpfte diesen mit einem „deutschen Volksgeist“. Vgl. Rudolf Steiner, Menschenschicksale und
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463