Seite - 327 - in Zeitwesen - Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
Bild der Seite - 327 -
Text der Seite - 327 -
4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie | 327
„Der Weltkrieg machte einen Riß in jedes erwachsenen Menschen Leben. [...] Das Ent-
setzlichste am Krieg ist für mich die gesetzmäßige Entfesselung von Roheit und Grausam-
keit mit ihren Folgen von Qual und Tod.“50
Besonders ausführlich erinnerte und schilderte Kubin eine Begebenheit, die sich
in den letzten Kriegstagen zugetragen haben musste und die ihm das Ende seiner
bisherigen Lebenswelt verdeutlichte:
„Ich war um jene Zeit zu Besuch in Micheldorf im nahen Kremstal auf dem Gute meines
Kollegen, des höchst merkwürdigen Carl Anton Reichel51; […] schon Ende Oktober, als
ich bei Reichel war, unterhielten wir uns meist über die großen politischen Umwälzungen,
die bald bevorstünden, und kombinierten da allerhand zusammen. Freilich, so tief ein-
schneidend, wie sie in Wirklichkeit waren, hätte sie sich von dieser Tafelrunde wohl keiner
gedacht. Nun, ich war heimlich froh, daß endlich die unerträglich gewordene Spannung
und das widerliche Gemetzel aufhören mußten. […] Auf der Rückfahrt von Micheldorf
in Linz für ein paar Stunden Aufenthalt nehmend, saß ich dort in einem jener so behag-
lichen, noch altösterreichisch anmutenden kleinen Kaffeehäuser und hätte beim Genuß
meiner grauenhaften Zichorienbrühe, der Sacharintablette und eines eklig-wässerigen,
bläulichen Milchersatzes am liebsten laut aufgeheult. Da fing mein Blick durchs Fenster
wie zufällig einen Haufen Militärsträflinge auf – vermutlich Ungehorsame und Deserteure
–, die gerade vorbeigeführt wurden.52 Lieber Himmel, wie sah diese stumpfe Gesellschaft
aus! Ein herabgekommenes Bettelpack! Und die sogenannte Wachmannschaft, grauköp-
fige, greisenhafte Erscheinungen, unterschied sich nur durch das Gewehr mit dem auf-
gepflanzten Bajonett von den übrigen schlechtgenährten, fahl aussehenden und müde
dahinschleichenden, unsoldatischen Gestalten. Von Uniformen konnte man wohl nicht
mehr sprechen, jede Gleichheit fehlte, und nur das Ungenügende der Kleidung war bei
allen gemeinsam, denn die meisten froren jämmerlich in ihren zu dünnen, schmierigen
Fetzen bei dem scharfen Herbstwind. Wie eine Vision kam mir da ein alter Holzschnitt in
Erinnerung: ‚Napoleonische Rückzugler aus Rußland im Jahre 1812‘, und zugleich fühlte
ich es deutlich: das ist das Ende meines geliebten alten Österreich.“53
50 Kubin, Aus meinem Leben, 63.
51 Carl Anton Reichel (1874–1944), österreichischer Graphiker und Maler.
52 Manfried Rauchensteiner verweist darauf, dass in den letzten Kriegswochen etwa fünf Prozent
der k.
u.
k. Armee desertiert seien, meist weniger aus politischem Widerstand als aus Hunger. Vgl.
Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg, 991.
53 Kubin, Aus meinem Leben, 59 f.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463