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4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie | 329
turcommonwealth“ konnte der Weltbürger Kokoschka viel abgewinnen. Im Rück-
blick auf seine Schulzeit beschreibt der Künstler, dessen Familie tschechische Wur-
zeln hatte, den Vielvölkerstaat, der sich in seiner eigenen Schulklasse spiegelte:
„Denke ich an die Schulzeit zurück, so habe ich das Empfinden, daß sich da die Geschichte
Österreichs gespiegelt hat. So viele Völker waren in dem alten Österreich verbunden, und
jedes hat seine Eigenheit behalten, seine besondere Begabung, die dazu beitrug, dieses
ganze Kulturcommonwealth, wie ich es nennen möchte, zu einem einzigartigen Organis-
mus zu verschmelzen. So etwas hat es in der Geschichte nie gegeben. Im Unterschied dazu
war das englische Commonwealth eine ökonomische Institution. Da waren Schüler in
meiner Klasse aus den Alpenländern, Ungarn, Slawen, Juden, Triester, Sudetendeutsche.
Wirklich eine Völkerversammlung.“55
Die Schulzeit mit Mitschülern und Lehrern aus unterschiedlichen kulturellen Kon-
texten habe ihn auf sein späteres Leben als „Wanderer“ vorbereitet, so spannte Ko-
koschka rückblickend einen sinngebenden biographischen Bogen.56 Das Bild des
multikulturellen und künstlerisch-intellektuellen Fin-de-Siècle-Wien mit seiner
Kaffeehauskultur wird in den Erinnerungen beschworen, gleichzeitig aber auch die
damit verbundene Wahrnehmung steigender politischer Spannung und das Gefühl,
dass die alte Welt zu Ende gehe:
„Bei einer Tasse Kaffee diskutierten meine Freunde und ich, damals waren wir alle un-
gefähr zwanzig Jahre alt, die Dinge, die uns zunächst angingen. Die Welt, die allein uns
damals bekannt war, drohte zu Ende zu gehen. […] Man las die Zeitungen im Kaffeehaus,
hörte und spürte auch die politischen Kämpfe, wo man früher seine Schale Kaffee in Ruhe
getrunken hatte. […] Aus einer engen Wohnung in der Vorstadt kommend, war ich von
den geistigen und politischen Strömungen der Zeit unberührt geblieben. Erstens verstand
ich nichts davon und zweitens wollte ich einfach nichts damit zu tun zu haben.“57
Die Schilderung jener letzten Jahre der Donaumonarchie erscheint in Kokoschkas
Autobiographie als eine Mixtur aus allgemeinen Geschichtsbuch-Erklärungen und
persönlichen Erinnerungen. Die aufgewühlte politische Stimmung beschrieb er aus
der Sicht eines Unbeteiligten, seine Interessen und Probleme als junger Künstler
seien andere gewesen.
55 Kokoschka, Mein Leben, 45.
56 Kokoschka, Mein Leben, 45.
57 Kokoschka, Mein Leben, 55.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463