Seite - 335 - in Zeitwesen - Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
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4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie | 335
unerfahrener Soldat und im Vergleich zu den zumeist aus der Aristokratie stam-
menden Kollegen befand er sich im Regiment zudem auf der sozial untersten Ebene
und war mit einem militärischen Alltag konfrontiert, der weder heroisch erschien
noch Möglichkeiten zur Entfaltung bot. Das Vorhaben Offizier zu werden, rückte in
immer schwerer erreichbare Ferne. Diesbezügliche Klagen und Zweifel finden sich
allerdings nur in den zeitgenössischen Briefen, in der Autobiographie „Mein Leben“
stellt sich die Geschichte etwas anders dar. Hier berichtete er davon, sich gegen Ende
seiner Ausbildungszeit freiwillig zur Front gemeldet zu haben, um einer drohenden
Bestrafung wegen eines „Insubordinationsvergehens“ zu entgehen. Diese Bestra-
fung hätte zur Folge gehabt seines „Avancements zum Offizier verlustig zu gehen“.74
Auf das in den Briefen beklagte soziale Gefälle wird in der Autobiographie nicht
verwiesen. In einem Brief an Alma Mahler im April 1915 brachte er es hingegen sehr
deutlich zum Ausdruck und setzte es auch in Verbindung mit seinen mangelnden
Aussichten auf den Offiziersrang:
„Und um 6 Uhr wieder aufstehen und beschimpft werden bis abends, weil ich zu wenig
Ausbildung mitbrachte vom Regiment, weil uns die Kerln dort nichts gelehrt haben, weil
ich auch noch zu kurz dort war gegen sieben Monate der andern, und weil ich nicht von
Kindheit an reite und weil ich mit niemandem von den aristokratischen Offizieren ver-
wandt bin. Ich werde sicher nicht die Offiziersprüfung bestehen, sondern einfach wegge-
schickt werden als Mannschaft, und muß dann sofort nach Rußland.“75
Wenig später schrieb er an Alma Mahler, dass er sich freiwillig als „Mannschaft für
das Feld“ habe aufschreiben lassen und auf die Einjährigenschule und Offiziersbeför-
derung verzichte, da ihm dazu die Geduld fehle. Offenbar kam er also einer von ihm
befürchteten drohenden Abwertung zum Mannschaftssoldaten zuvor, indem er sich
freiwillig als solcher meldete. Als Nachteile dieser Entscheidung, über die er auch sei-
nen Freund Albert Ehrenstein informierte, führte er an, dass er kein Gepäck und kei-
nen Burschen mitnehmen könne und „überhaupt als Mannschaft behandelt werde“,
der Vorteil sei aber, dass er dadurch „endlich wegkomme von hier“.76 Tatsächlich
sollte Kokoschka kurz darauf, im Juli 1915, an die Ostfront nach Galizien aufbrechen.
Am 21. Juli 1915 erreichte ein Brief aus Sátoraljaújhely (heute an der ungarisch-
slowakischen Grenze) seine Mutter, am 22.
Juli schrieb er aus Lemberg (heute Lwiw
in der Ukraine). Lemberg war gerade erst von der k. u. k. Armee wieder zurück-
74 Kokoschka, Mein Leben, 140.
75 OK an Alma Mahler, [Holíč, April 1915], zit. nach Oskar Kokoschka, Briefe I, 218.
76 OK an Alma Mahler, [Holíč,] 24.[4.]1915, zit. nach Oskar Kokoschka, Briefe I, 218.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463