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4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie | 343
Nicht erwähnt in dieser Darstellung ist, dass Kokoschka auch selbst Kriegsmaler war
und sowohl Rippl-Rónai als auch er in dieser Funktion dem Kriegspressequartier
unterstanden. Auf den Feldpostkarten, die aus dieser Zeit von Kokoschka vorliegen,
ist er als „AOK – Kunstgruppenführer“ bezeichnet.106 Die Darstellung in der Auto-
biographie ist somit nicht unbedingt inkorrekt, aber eben nur ein Teil der Wahrheit.
Die jüngere Forschung sieht darin einen Beleg dafür, dass Kokoschka retrospektiv
nicht mit einer Kriegspropagandatätigkeit in Verbindung gebracht werden wollte,
um sein Image als Pazifist nicht in Frage zu stellen. Zweifellos war es vielen Künst-
lern, auch den im Pressequartier tätigen Literaten, später nicht angenehm, als Teil
des Kriegspropagandaapparats aufzuscheinen.
Wo im Isonzogebiet Kokoschka sich über die Wochen seines Aufenthalts genau
befand, ist nicht durchgängig nachweisbar, Ausgangspunkt war jedenfalls Laibach.
Als identifizierbare Orte finden sich auf den erhaltenen Zeichnungen Kokoschkas
u.a. Tolmino und Selo, beide heute Slowenien. Die Autobiographie ist in Bezug auf
den Isonzo-Aufenthalt wenig informativ, der Bericht dazu umfasst nur eine knappe
Seite und ist somit wesentlich kürzer als die Erzählung zum Frontaufenthalt in Gali-
zien. Auch aus den erhaltenen Briefen geht wenig über die Tätigkeit in den Wochen
im Isonzogebiet hervor. Den Eltern schrieb er am 2. August 1916, bereits „2 Blocks
voll Zeichnungen“ zu haben – „Pflicht erfüllt, ruhiges Gewissen“.107 Der laut He-
rausgeberInnen der Briefedition Olda Kokoschka und Heinz Spielmann letzte Brief
aus dem Isonzogebiet ging am 22. August an Erich Mandl, er kündigte darin an,
am 1. September voraussichtlich wieder in Wien zu sein.108 Tatsächlich kam es aber
noch vor seiner Abreise zu einem Vorfall, den Kokoschka in der Autobiographie wie
folgt beschreibt:
„Von Unruhe und Neugierde getrieben […] wagte ich mich in die Nähe der Isonzobrücke,
eine Sattelbrücke, wie sie die Römer gebaut hatten. Da wurde sie plötzlich gesprengt, und
diesmal bekam ich einen Shellshock.“109
106 ZBZ, NL O. Kokoschka, Fasz. 31.27, Feldpostkarten OK an Albert Ehrenstein.
107 OK an Gustav und Romana Kokoschka, [Isonzo-Front], 2.8.1916, zit. nach Kokoschka, Briefe I,
244.
108 Vgl. OK an Erich Mandl, [Isonzo-Front], 22.8.16, zit. nach Kokoschka, Briefe I, 247; 363. Im Ko-
koschka-Nachlass in der ZBZ findet sich eine Feldpostkarte Kokoschkas an Albert Ehrenstein, die
den Poststempel 29.8. trägt und damit noch später datiert ist. Allerdings ist handschriftlich das
Datum 5.8. angeführt, möglicherweise wurde sie somit erst später (noch von Kokoschka?) abge-
schickt.
109 Kokoschka, Mein Leben, 157.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463