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| 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum
Nationalsozialismus344
Vermutlich geht der von Kokoschka gewählte Begriff des shell shock auf seine spätere
britische Sozialisation zurück. Beschrieben wurden damit unterschiedliche Symp-
tome, die sich als Folge von Granaten- oder Bombenlärm oder generell als Folge
der traumatisierenden Bedrohungssituation bei Soldaten einstellten. Im deutsch-
sprachigen Raum war weniger von shell shock als von „Kriegszitterern“ die Rede.
Wie bereits im Exkurs zum Diskurs um die Nerven dargestellt, erhielt der bereits
vor dem Ersten Weltkrieg virulente gesellschaftliche und medizinische Befund der
„Neurasthenie“ im Krieg eine neue Dimension. Symptome, wie sie zuvor nur bei der
als weiblich assoziierten Hysterie beobachtet wurden, tauchten in den Jahren des
Ersten Weltkriegs massenhaft bei männlichen Soldaten auf: organisch nicht begrün-
dete Lähmungen, Erblindungen, Tremor und phobische Zustände.110
In Kokoschkas autobiographischen Aussagen findet sich wenig zu seiner dama-
ligen Symptomatik. Er beschrieb lediglich die Behandlung, die ihm in Wien nach
seinem Rücktransport aus dem Isonzo-Gebiet zuteilwurde. Es waren die typischen
Methoden, mit denen so genannte Kriegszitterer häufig behandelt wurden, nämlich
Elektroschocktherapien:
„alle zwei Wochen setzte man mich unter elektrischen Strom, um künstlich Gehirn-
krämpfe hervorzuberufen, danach unter Röntgenbestrahlung, um die lädierten Partien
meines Kleinhirns untersuchen zu können. Eine Woche dauerte es immer, bis ich mich
von der peinlichen und schmerzhaften Untersuchung erholte. Ich war nahe daran, mit
dem Leben Schluß zu machen.“111
Die Beschreibung klingt, als ob es sich um eine längere Behandlung gehandelt habe,
was allerdings nicht sein kann, da Kokoschka noch im September 1916 nach Berlin
zu Herwarth Walden fuhr, um sich dort zu erholen und zu malen. Im Oktober er-
schien er nicht zu einer Musterung, zu der er seitens des AOK einberufen worden
wäre und begründete dies damit, dass er sich derzeit in Berlin aufhalte und sein Zu-
stand eine sofortige Abreise nicht zulasse. Er legte ein Attest des „Generalstabsarztes
Professor Dr.
Cassirer“ bei.112 Die Beschwerden, die ihm Cassirer darin bescheinigte,
bezeichnete dieser als „Folgeerscheinungen der Verletzung, die er am 1. September
110 Zum Phänomen der Kriegsneurotiker vgl. Hans-Georg Hofer, Nervenschwäche und Krieg. Moder-
nitätskritik und Krisenbewältigung in der österreichischen Psychiatrie (1880–1920), Wien 2004,
bes. 236 ff.
111 Kokoschka, Mein Leben, 159.
112 ÖStA, KA, KPQ, Karton 34, Fasz. Oskar Kokoschka. Beim Arzt handelte es sich um Richard Cassi-
rer, den Bruder des Kunsthändlers und Verlegers Paul Cassirer, mit dem Kokoschka eng befreundet
war.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463