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| 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum
Nationalsozialismus346
der Lebensreformbewegung als Naturheilanstalt, in der vor allem besondere Ernäh-
rungsweise und Hydrotherapie zur Anwendung kamen.
Kokoschka war nicht der einzige Künstler, der in Teuschers Sanatorium Behand-
lung, aber auch Zuflucht vor einem weiteren Fronteinsatz fand. Sanatoriumsleiter
Teuscher und die dort tätigen Mediziner Fritz Neuberger und Heinrich Stadelmann
„versinnbildlich[t]en eine Geisteshaltung, die Pazifismus und Menschenwürde
verband und so den Künstlernaturen ihre Lebenswege ermöglichte“, wie der Me-
dizinhistoriker Albrecht Scholz feststellte.118 Neben Kokoschka waren es der ex-
pressionistische Dichter Walter Hasenclever, der Schauspieler Heinrich George und
andere, die über Teuschers Sanatorium zueinander fanden und dort eine Form von
Künstlerkolonie lebten. Auch wenn sich im Laufe der Zeit eine bohèmehaft lebende
Künstlerszene rund um das Sanatorium und die dazu gehörige Pension „Felsenburg“
entwickelte,119 der medizinische Hintergrund und damit Anlass ihres Dresdner Auf-
enthalts darf nicht außer Acht gelassen werden. Die meisten litten an Kriegsneu-
rosen, die bei Teuscher in einer Verbindung von psychotherapeutischen Verfahren
und Naturheilkundemethoden geheilt werden sollten. Am 8. Dezember 1916, kurz
nach seiner Ankunft im Sanatorium, schrieb Kokoschka an Herwarth Walden:
„Katja120 ist noch, Gott sei Dank, da, sonst wäre ich schon vor Hypochondrie umgekom-
men, sie schützt mich vor den Menschen, die Untersuchungen sind heute schon vorüber,
aber ich hatte auch nachts einen Herzkrampf mit Heulen, glaube, daß ich einige Monate
hierbleiben werde.“121
Ein interessanter Akt findet sich im Nachlass Oskar Kokoschkas, der darauf ver-
weist, dass Heinrich Teuscher eine ärztliche Expertise seines Wiener Kollegen Alf-
118 Scholz, Ärzte und Patienten, 15. Auch Kokoschka selbst verwies – zumindest in der ersten Fas-
sung seiner Autobiographie – darauf, dass der bei Teuscher tätige Arzt Dr. Fritz Neuberger über
beste Beziehungen zu höchsten Stellen im Generalstab verfügte und mehrere Dichter, Künstler und
Schauspieler vom Militärdienst befreien konnte. Vgl. ZBZ, NL F. Witz, Karton 81, Fasz. 81.10.
119 Nach ihrem Sanatoriumsaufenthalt zogen viele PatientInnen zur weiteren Regeneration in die Pen-
sion „Felsenburg“, die mit dem Sanatorium kooperierte, allerdings wesentlich erschwinglicher war
und daher längere Aufenthalte ermöglichte. Dies war auch für Kokoschka ein Grund seines Um-
zugs in die „Felsenburg“, wie er seiner Mutter mitteilte. Vgl. OK an Romana Kokoschka, Dresden
26.12.1918, zit. nach Kokoschka, Briefe I, 303.
120 Gemeint ist die Schauspielerin Käthe Richter, die ebenfalls zu dem Kreis expressionistischer Künst-
lerInnen im Umkreis der „Felsenburg“ gehörte und mit der Kokoschka eine enge Freundschaft ver-
band. Sie spielte die weibliche Hauptrolle in der Aufführung von „Mörder, Hoffnung der Frauen“
1917 in Dresden.
121 OK an Herwarth Walden, [Dresden/Weißer Hirsch 8.12.1916], zit. nach Kokoschka, Briefe I, 260.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463