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| 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum
Nationalsozialismus350
und Lagerbildung machte es auch für sich als „apolitisch“ verstehende KünstlerIn-
nen schwierig beziehungsweise unmöglich, sich der politisierten Stimmung zu ent-
ziehen. Gleichzeitig sahen viele KünstlerInnen in der neuen Situation eine Chance,
die Rolle der Kunst und der Künstler in der Gesellschaft neu zu diskutieren. Wie
der Wiener Kunsthistoriker und Vertreter der Moderne Hans Tietze 1919 in sei-
nem Beitrag „Die Demokratie und die Künstler“ feststellte, machten sich Künstler in
Deutschland und Österreich „die Sache der Demokratie zu der ihren“ und forderten
„die völlige Autonomie von Kunst und Künstlern und die ausgiebigste Förderung
beider durch die Öffentlichkeit“.131 Er spielte damit auf die Bewegung von Künstler-
räten an, wie sie im Zuge der revolutionären Rätebewegung unmittelbar nach dem
Ersten Weltkrieg an verschiedenen Orten entstanden waren. Dass die Sorge für die
Künstler der Staat übernehmen solle – so die in den neuen Republiken engagierten
Künstlerräte –, sah Tietze als bedrohliche Vereinnahmung und falsche Entwicklung.
Er befürchtete in der von vielen Künstlern geforderten sozialpolitischen Unterstüt-
zung durch den Staat eine Gefahr der Nivellierung von Kunst und nicht zuletzt auch
der (politischen) Vereinnahmung.
„Was er [Anm.: der Staat] durch Stipendien, Aufträge und Ankäufe erzielt, wird umso
armseliger sein, je mehr er dabei nicht die Sache der Kunst, sondern das Interesse der
Künstler berücksichtigt und je mehr eine demokratische Organisation der Kunstverwal-
tung ihn nötigt, es vielen – im Prinzipe allen – recht zu machen.“132
Die Forderungen der KünstlerInnen nach mehr Unterstützung fanden auch nur be-
dingt Umsetzung in den neuen Republiken, deren wirtschaftlich-prekäre Situation
eine großzügige KünstlerInnenförderung nicht zuließ, während zudem in der Wirt-
schaftskrise der späten 1920er auch viele finanzkräftige KunstmäzenInnen und Käu-
ferInnen wegfielen. War es schon für bereits etablierte KünstlerInnen nicht einfach,
sich den Lebensunterhalt zu sichern, war dies für KünstlerInnen, die sich gerade am
Beginn ihrer Karriere befanden, schier unmöglich. Die Strategien des Umgangs da-
mit waren verschieden, im Falle Erika Giovanna Kliens führte es 1928 zur Entschei-
dung, Österreich zu verlassen. Auch persönliches soziales Engagement und/oder
die Hinwendung zu dezidiert politischer oder sozialkritischer Kunst lassen sich als
Reaktion auf die Verhältnisse nachweisen. Sozialkritisch motivierte Werke wie die
Holzschnitte eines Otto Rudolf Schatz oder die Architektur einer Margarete Schütte-
Lihotzky im Kontext des „Roten Wien“ verweisen nicht nur auf neue künstlerische
131 Hans Tietze, Die Demokratie und die Künstler, in: Kunstchronik und Kunstmarkt, 2.5.1919, 589–592.
132 Tietze, Demokratie, 590.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463