Seite - 351 - in Zeitwesen - Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
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4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ | 351
Tendenzen, sondern auch auf ein verändertes Selbstverständnis von KünstlerIn-
nen.133 Ähnlich wie Schatz und Schütte-Lihotzky engagierten sich in den 1920er-
und 1930er-Jahren zahlreiche KünstlerInnen im Rahmen der Arbeiterbewegung.
Ein dezidiert politisches Konzept einer neuen Kunst kann für Österreich aber nicht
festgestellt werden. „[…] von Anzeichen einer gesellschaftskritischen Haltung ist
wenig zu erkennen. Im Spiegel seiner Bildproduktion erscheint Österreich als ruhi-
ges, ausgeglichenes und zufriedenes Land“, konstatieren die KunsthistorikerInnen
Wolfgang Drechsler und Antonie Hörschelmann.134 Angesichts der angespannten
politischen und ökonomischen Situation der Ersten Republik darf das verwundern,
und umso mehr sollte auf jene KünstlerInnen und deren Werke verwiesen werden, in
denen politisches Geschehen aufgenommen wird.135 So kommen Christoph Bertsch
und Andreas Neuwirth hinsichtlich des scheinbaren Fehlens politischer Kunst in
der österreichischen Zwischenkriegszeit zu einem anderen Befund. Sie verweisen
darauf, dass diese in der Zweiten Republik schlicht wenig rezipiert worden sei und
zudem durch Vertreibung und Emigration politisch kritische KünstlerInnen und
deren Werk vielfach in Vergessenheit gerieten.136
Mit der Ausschaltung des demokratischen Systems 1933 und der Etablierung der
autoritären Kanzlerdiktatur durch Engelbert Dollfuß und seinen Nachfolger Kurt
Schuschnigg änderten sich die Rahmenbedingungen für die KünstlerInnen erneut.
VertreterInnen und Institutionen der sozialdemokratischen Kulturbewegung fan-
den keine weitere Förderung, ganz im Gegenteil wurden sämtliche der Partei na-
hestehende Vereine, auch im Bereich der Kunst und Kultur verboten. Geprägt von
einer „reaktionären Moderne“137 stand die ständestaatliche Kulturpolitik vor dem
Dilemma, einerseits selbst ideologisch motiviert antimodern zu sein, sich aber ande-
rerseits von der in Deutschland herrschenden antimodernen nationalsozialistischen
133 Otto Rudolf Schatz. Schatz (1900–1961), Absolvent der Wiener Kunstgewerbeschule, beschäftigte
sich in seinem graphisch-expressionistischem Werk mit gesellschafts- und sozialkritischen Themen.
Er illustrierte zahlreiche Schriften der sozialdemokratischen Kulturbewegung, darunter Luitpold
Sterns „Die neue Stadt“ Ausführlicher zu Biographie und Werk vgl. Dietrich Kraft/Matthias Boeckl,
Otto Rudolf Schatz. 1900–1961, Weitra 2010. Zum „Roten Wien“ vgl. zuletzt Werner Schwarz/Ge-
org Spitaler/Elke Wikidal (Hg.), Das Rote Wien. 1919–1934. Ideen, Debatten, Praxis, Basel 2019. Zu
Margarete Schütte-Lihotzky vgl. zuletzt Marcel Bois/Bernadette Reinhold (Hg.), Margarete Schütte-
Lihotzky. Architektur. Politik. Geschlecht. Neue Perspektiven auf Leben und Werk, Basel 2019.
134 Wolfgang Drechsler/Antonia Hörschelmann, Als es modern war, unmodern zu sein. Zur Situation
der Bildenden Kunst um 1930, in: Kos, Kampf um die Stadt, 222–229, 227.
135 Vgl. Bertsch/Neuwirth, Krieg, Aufruhr, Revolution.
136 Bertsch/Neuwirth, Krieg, Aufruhr, Revolution, 7 f.
137 Rathkolb, Janusköpfigkeit, 29. Rathkolb verwendet den Begriff der „reaktionären Moderne“ in An-
lehnung an das Modell des reactionary modernism des US-amerikanischen Historikers Jeffrey Herf.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463