Seite - 358 - in Zeitwesen - Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
Bild der Seite - 358 -
Text der Seite - 358 -
| 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum
Nationalsozialismus358
„Der Begriff Kunst und Künstler ist eine Erfindung des Bürgers und ihre Stellung im
Staat kann nur auf seiten der Herrschenden, d.h. der bürgerlichen Kaste sein. Die Ti-
tulierung ‚Künstler‘ ist eine Beleidigung. Die Bezeichnung ‚Kunst‘ ist eine Annullierung
der menschlichen Gleichwertigkeit. Die Vergottung des Künstlers ist gleichbedeutend mit
Selbstvergottung. Der Künstler steht nie höher als sein Milieu und die Gesellschaft derje-
nigen, die ihn bejahen.“159
Kokoschka sei – so Grosz und Heartfield – „nur der Anlaß, um die bürgerliche
Kunst entlarven zu können“, dennoch wurde der Angriff gegen ihn sehr untergrif-
fig und persönlich geführt, so wurde er aufgrund seines österreichischen Idioms
als „Weana-Kind“ vorgeführt.160 Für Kokoschka muss das Pamphlet zweifelsohne
eine Kränkung dargestellt haben. Nicht nur wurde er missverstanden, indem der
ironisch-polemische Ton seines Aufrufs bewusst oder unbewusst missachtet wurde,
noch schlimmer war für ihn vermutlich, als Vertreter des Establishments markiert
zu werden. Er, der erst knapp zehn Jahre zuvor in Wien als Kunstrebell und Bürger-
schreck aufgetreten war, wurde nun der Bourgeoisie zugeschrieben.
Betrachtet man den Anlass des „Kunstlump“-Artikels näher, nämlich Kokoschkas
Aufruf an die Dresdner Einwohnerschaft, zeigt sich ein wesentlich differenzierteres
Bild als es in der Replik zur Sprache kommt: Einerseits ist die inhaltliche Botschaft
des Textes tatsächlich davon getragen, die Kunst, die reine, hohe und wahre Kunst,
symbolisiert durch das genannte Meisterbild des Rubens, über die Niederungen ei-
ner zerstörerischen politischen Realität zu stellen. Gleich ob rechts oder links posi-
tioniert, keine Ideologie könne die Zerstörung von Kunst und den kulturellen Wer-
ten des Menschseins generell rechtfertigen. Wenn man so will, wird hier tatsächlich
das Bild der unpolitischen Künste und des unpolitischen Künstlers bedient, der
ausschließlich der Kunst als dem höchststehenden Wert verpflichtet ist. Anderer-
seits und eigentlich in Widerstreit dazu vollzog Kokoschka mit dem Verfassen und
Affichieren dieses Plakats selbst einen höchst politischen Akt, indem er öffentlich
Stellung bezog und mit der subtilen Ironie seines Textes eine klare Position gegen
Gewalt (nicht nur gegenüber Kunstwerken) einnahm.
In vielen Briefstellen jener Jahre liebäugelte Kokoschka – wenn auch im üblichen
Stil oft zynisch-ironisierend formuliert – mit politischen Aufgaben oder Funktionen.
Schon vor Ende des Ersten Weltkriegs, im Sommer 1918, hatte er seiner Schwester
Berta (mit der Anrede „Meine liebe Frau K. u. K. Abteilungschefin“) Folgendes an-
vertraut:
159 Heartfield/Grosz, Kunstlump, 110.
160 Heartfield/Grosz, Kunstlump, 109 f.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463