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| 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum
Nationalsozialismus366
Rückkehr nach München. Die weiße Garde forsche nach mir. Trotzdem kamen wir für
einige Tage nach München, um zu packen und zu übersiedeln, über Burghausen nach
Ach-Überaggern.183 Gegen Herbst 1919, es war die Ernte vorbei. In dieser Zeit hatte ich in
Frankfurt am Main, bei Kunstsalon Goldschmidt, eine grössere kubistische Ausstellung.
Durch freundschaftliche Bemühungen des jüd. Dichters Alfred Wolfenstein setzte ich zu
guten Preisen viel ab, Bilder u. Aquarelle. Sodass wir Mittel hatten u. uns in Österreichs
Einöde einrichten konnten.“184
Mit seinem aus politischen Gründen erfolgten Weggang aus München begann
Wachs Lebensphase der ländlichen Zurückgezogenheit. Dies ist auch als Zäsur in
seiner künstlerischen Entwicklung wahrzunehmen, indem er sich vom Expressio-
nismus immer mehr zurückzog. Von Überackern zog Wach weiter in die nahe gele-
gene Kleinstadt Braunau. Im Zuge des Umzugs holte ihn die politische Vergangen-
heit nochmals ein und bescherte ihm mehrere Tage Gefängnisaufenthalt, wie er in
seinem autobiographischen Rückblick schildert:
„Ehe ich von Überaggern nach Braunau übersiedelte fuhr ich von Burghausen an der Salz-
ach über bayrisches Gebiet (Passau) zum so genannten ‚Schneiderschlössl‘ unterhalb Pas-
sau, es zu besichtigen, eventuell zu mieten. Am Rückweg wurde ich am Bahnhof Simbach
verhaftet unter dem Vorwand, mit meinem Grenzschein hätte ich eine gewisse Zone nicht
überschreiten dürfen. Man diktierte mir 3 Tage Haft zu wegen Passvergehens. Behielt
mich aber insgesamt 9 Tage im Gefängnis unter dem Vorwand, dass man von München
noch keine Nachricht hätte, da man sich dorthin wandte, ob gegen mich u. meine Tätig-
keit anlässlich der Räte-Affaire in München etwas vorliegt. Da von München aus keine
weiteren Weisungen oder Auskünfte eintrafen, musste man mich wohl oder übel freilassen
auf meinen energischen Protest hin. Ich musste allerdings für 6 Tage Verpflegungskosten
bezahlen, für Pension wahrscheinlich.“185
Angesichts Wachs späteren Werks, in dem er vielfach religiöse Motive verarbeitet
und sich vom Expressionismus klar distanziert, und vor allem in Anbetracht seiner
späteren sympathisierenden Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus, mag sein
„linkes“ Engagement in der Räterepublik auf den ersten Blick verwundern. Interes-
183 Überaggern (heute: Überackern) ist eine kleine Gemeinde im Bezirk Braunau, direkt an der deut-
schen Grenze unweit von Burghausen gelegen. Wachs Ansiedlung dort dürfte in Zusammenhang
mit seinem Freund Egon Wertheimer zu sehen sein, dessen Familienlandgut Ranshofen in unmit-
telbarer Nähe liegt.
184 Aloys Wach, Biographische Notizen 1929 (mit Nachträgen 1931), 1.8.1929.
185 Aloys Wach, Biographische Notizen 1929 (mit Nachträgen 1931), 1.8.1929.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463