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| 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum
Nationalsozialismus370
schrift „Arbeiter“ oder „Wählet christlichsozial“ politisch zuordenbar sind. Sie werden
von Polizisten mit Waffen bedroht, wobei sich im Hintergrund des Bildes „Straßen-
kampf“ auch berittene Einheiten befinden, die vom Pferd herab auf die Menge schie-
ßen. Ebenso sieht man im Hintergrund aufgereihte Bajonette, die auf die gegenüberlie-
gende Menschenmenge gerichtet sind. Angesichts der Detailfülle der Bilder ist davon
auszugehen, dass Klien diese nach eigener Ansicht, das heißt aus der Erinnerung an
solche Szenen in Österreich gemacht hat.190 Die Bilder sind mit 1930 signiert, einem
Zeitpunkt also, zu dem sie bereits in den USA war. Aus ihrer Korrespondenz mit Mut-
ter und Bruder ist bekannt, dass sie von diesen regelmäßig österreichische Zeitungen
geschickt bekam. Vom Bruder dürfte sie auch intensiver über die politischen Vorgänge
informiert worden sein – so lässt es zumindest ein Halbsatz in der vorhandenen Korre-
spondenz vermuten.191 Die Anregung zu den beiden Aquarellen kann somit durchaus
aus aktuellen Nachrichten aus Österreich erfolgt sein. Die erhaltenen Briefe Kliens an
ihre Mutter sowie die an Mutter und Bruder gemeinsam adressierten Briefe enthal-
ten aber keinerlei Statements zur politischen Lage, weder in Bezug auf die österrei-
chische Situation noch auf Ereignisse in den USA. Angesichts der bereits dargestellten
Nachlass genese kann aber natürlich nicht ausgeschlossen werden, dass Briefe Kliens,
vielleicht auch mit dezidiert politischen Aussagen, schlicht nicht erhalten sind.
Ob sich Kliens „Straßenkampf“ auf eine bestimmte Auseinandersetzung bezieht
oder verschiedene Eindrücke in ein Szenario verwebt, kann nicht klar festgestellt
werden, zweiteres erscheint aber wahrscheinlicher. Da sich bei den Demonstrieren-
den politische Symbole aller Richtungen finden lassen, soll es wohl die allgemeine
politische Stimmung im Land wiederspiegeln. Der Einsatz berittener Polizei, und
auch jener von Bajonetten, Gewehren und Pistolen gibt jedenfalls die reale Situa-
tion politischer Gewalt in der Zwischenkriegszeit wieder: Bei der blutigen Nieder-
schlagung der Demonstration nach dem Schattendorfprozess im Juli 1927, bei der
von Demonstranten der Justizpalast angezündet worden war, starben 89 Menschen
durch den brutalen Einsatz scharfer Waffen seitens der Polizei, fünf Todesopfer gab
es auf Seiten der Polizei, und hunderte Menschen wurden schwer verletzt.192
190 Christoph Bertsch vermutet aufgrund der am Bild sichtbaren Pistolen den Einfluss des Anblicks
amerikanischer Straßenkämpfe, vgl. Christoph Bertsch, Bildtradition und Körpersprache. Öster-
reichische Bilder-Geschichten der Zwischenkriegszeit als historischer Kommentar, in: Bertsch/
Neuwirth, Krieg, Aufruhr, Revolution, 73–127, 99. Dies muss aber nicht unbedingt sein, auch die
österreichische Polizei war in der Zwischenkriegszeit mit Pistolen ausgestattet.
191 So schrieb Kliens Schwester Bertha (in einem gemeinsam mit ihrer Schwester verfassten) Brief an
den Bruder Gunther Klien: „Dein Brief hat mich sehr interessiert – die politischen Verhältnisse
etc.“ Slg. Pabst, NL Klien, EGK an Gunther Klien, Chicago 29.12.1929.
192 Zu den gewalttätigen Auseinandersetzungen in der Zwischenkriegszeit vgl. Gerhard Botz, Gewalt in der
Politik. Attentate, Zusammenstöße, Putschversuche, Unruhen in Österreich 1918–1938, München 1983.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463