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4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ | 371
Die Demonstrierenden erscheinen in Kliens Darstellung als Individuen. Trotz
einheitlichem Äußeren verfügen sie über individualisierte, schmerzverzerrte Ge-
sichter, in denen Verzweiflung sichtbar ist, während die Gesichter der Polizisten nur
schemenhaft und ohne erkennbare Mimik dargestellt sind. Auffällig am Bild sind
die langen Gliedmaßen der dargestellten Menschen, lange Arme halten Waffen oder
greifen nach Steinen oder ragen hilfeflehend in die Höhe. Die Szene im Hintergrund
mit der berittenen Polizei bildet einen eigenen Bildteil, der an „klassische“ Schlacht-
und Revolutionsdarstellungen in kunstgeschichtlicher Tradition erinnert. Durch die
Leerstelle in der Mitte und die Ausrichtung der schießenden Polizisten wird ein ein-
zelner Mensch in den Mittelpunkt des Geschehens gerückt – trotz der Darstellung
der Masse geht es somit klar um das Individuum. Typisch für Klien finden sich auf
dem Aquarell auch vereinzelte Schriftelemente, sie geben dem Geschehen noch ein-
mal seine politische Einordnung. Zu finden sind als Schriftzüge auf Bannern und
Plakaten: „Arbeiter!“, „Wählet christlichsozial“ und „Wählet sozial-“. Emblematisch
ist auf der Armbinde eines Mannes auch ein Hakenkreuz dargestellt. Untypisch für
Klien ist, dass sich keine kinetischen, zergliederten Bewegungsfolgen finden lassen,
d.h. das Bild wirkt sachlicher, realistischer als andere Darstellungen der Künstlerin.
Mit seinem dezidiert politischen Inhalt ist es zudem singulär im Werk und bislang
wenig in den Gesamtkontext ihres Œuvres eingebettet.
Leider fehlen wie schon beschrieben weitere Quellen über Kliens Wahrnehmung
der politischen Situation in Österreich. In einem ihrer ersten Briefe nach der Über-
siedlung in die USA thematisiert sie aber gegenüber der Mutter die soziale Proble-
matik, die Armut und Hoffnungslosigkeit, die sie in Wien empfunden habe:
„ich war schon lange nicht mehr so hoffnungsvoll – als seit ich hier arbeite – besonders
nach der entmutigenden letzten Zeit in Österreich – war das eine Erlösung für mich – hier
habe ich unglaubliche Arbeitsmöglichkeiten und Erfolg – mein Selbstbewußtsein hat sich
sehr gesteigert – manchmal graut mir – wenn ich an das arme Österreich zurückdenke
– an d. armen Leute – die Kriegskrüppeln auf der Straße u. an meine eigene Hoffnungslo-
sigkeit – das alles gibt es hier nicht“193
Verwundern mag an dieser Briefstelle, dass Klien als sozialkritische Beobachterin,
die sie zweifellos war, im Dezember 1929 aus New York berichtete, dass es dort keine
Armut gebe – wenige Wochen nach dem Black Friday, der in den USA die Great De-
pression einleitete. Möglicherweise war diese Situation noch nicht in ihrer Wahrneh-
mung angekommen, vielleicht wollte sie ihren American Dream und eine gewisse
193 Slg. Pabst, NL Klien, EGK an Anna Klien, New York 11.12.1929.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463