Seite - 374 - in Zeitwesen - Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
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| 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum
Nationalsozialismus374
Insbesondere die Ereignisse des Februar 1934 machten auf Kokoschka nachhaltig
Eindruck. Er gab ihnen Mitschuld daran, dass seine Mutter kurz danach verstarb. In
seiner Autobiographie heißt es dazu:
„Von unserem Haus aus konnte man Wien überblicken, Häuser brennen sehen, Kanonen-
donner hören. Meine weltfremde Mutter war Tag und Nacht nicht vom offenen Fenster
wegzubringen, fassungslos darüber, daß in unserer Stadt Menschen aufeinander schos-
sen. Sie verweigerte die Nahrungsaufnahme, wurde krank und kränker. Abermals hatte
ich meinen jüngeren Bruder davon abzuhalten, die letzten Stunden eines Sterbenden zu
erfahren; er sollte als junger Mensch den Glauben an das Leben behalten. Meiner in Prag
lebenden kranken Schwester teilte ich erst nach der Beerdigung meiner Mutter die trau-
rige Nachricht von ihrem Ableben mit.“198
In der Autobiographie führte er weiter aus, dass es ihm nicht genüge, für den Tod
seiner Mutter „Dollfuß anzuklagen“ – Fortschritt und technologische Entwicklung
hätten ebenfalls Schuld gehabt an den politischen Katastrophen des 20. Jahrhun-
derts. Zeitgenössisch spielte dieser – sich bei Kokoschka im Laufe des Lebens stei-
gernde – fortschrittsskeptische Faktor aber noch keine Rolle in seiner Einschätzung.
Für die politische Elite des „Ständestaats“ hatte er vor allem zynisch formulierten
Spott übrig. Nach der Ermordung von Kanzler Engelbert Dollfuß im Zuge des na-
tionalsozialistischen Putschversuchs von 1934 und der daran anschließenden quasi
heiligenmäßigen Verehrung des Verstorbenen199 schrieb er an seinen Freund Eh-
renstein:
„Wissen Sie, daß ernsthaft erwogen wird, den ‚Märtyrer-Kanzler‘ heilig zu sprechen? In
dem Himmel wird schon ein bissl zu viel politisiert, höchste Zeit, daß die Leute beginnen,
sich für’s Jenseits zu desinteressieren und am Diesseits sich zu genügen. Meine ganze Post
haben sie in Wien abgefangen, weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin und von Ihnen
ein Telegramm erhielt aus Moskau.“200
Schuschnigg-Regime. Vermessung eines Forschungsfeldes, Wien 2013. Den breitesten Überblick
bietet nach wie vor das bereits in mehreren erweiterten Auflagen erschienene Standardwerk Em-
merich Tálos (Hg.), Austrofaschismus. Politik, Ökonomie, Kultur, 1933–1938, Wien 2005.
198 Kokoschka, Mein Leben, 225. In einem Brief an den Journalisten Friedrich T. Gubler schrieb Ko-
koschka Mitte Juli 1934 davon, dass seine Mutter „auch zum Teil infolge von den Enttäuschungen
der letzten Jahre“ gestorben sei. Kokoschka, Briefe II, 275.
199 Vgl. dazu ausführlich die Studie von Lucile Dreidemy, Der Dollfuss-Mythos. Eine Biographie des
Posthumen, Wien 2014.
200 OK an Albert Ehrenstein, [Prag, Herbst 1934], zit. nach Kokoschka, Briefe III, 10.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463