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| 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum
Nationalsozialismus394
Unmittelbar nach dem „Anschluss“ interessierte sich die örtliche Gestapo für
Kubin. Der Gendarmerieposten Wernstein wurde von der Gestapostelle Wels (im
Auftrag der Gestapo Linz) beauftragt zu untersuchen, ob Kubin „Angehöriger des
Anarchosyndikalistischen Kulturbolschewismus“ gewesen sei.256 Ob eine Denunzi-
ation der Anlass zu dieser Nachfrage war, ist unklar. Der Bericht kam jedenfalls zum
Ergebnis, dass es keine Anhaltspunkte dafür gebe, dass Kubins „sich aktiv am An-
archosyndikalistischen Kulturbolschewismus“ beteiligt habe.257 Dem Wernsteiner
Postenkommandanten war es aber offenbar ein großes Bedürfnis, möglichst viele
Gerüchte über den ansässigen Künstler weiterzugeben. Er berichtete ausführlich
von den Kontakten und Freundschaften, die der Künstler pflege, von wem er Post
erhalte, sogar angebliche Streitigkeiten zwischen Kubin und seiner Frau zum Thema
Nationalsozialismus, die sich im Haus abgespielt hätten, wurden kolportiert. Nicht
zuletzt deswegen ist wohl davon auszugehen, dass jemand in Kubins Umfeld in den
Vorgang eingebunden war.258 Von weiteren Erhebungen oder Aktivitäten der Ge-
stapo gegenüber Kubin ist nichts bekannt. Weder in der Korrespondenz noch in der
Autobiographie findet sich eine Erwähnung des Vorfalls.
Wie bereits argumentiert, war die Eingebundenheit Kubins in lokalen Netzwer-
ken, vor allem in der Innviertler Künstlergilde, in solchen Situationen von Nutzen.
Besonders die gute Beziehung zum Vorsitzenden der Innviertler Künstlergilde, Ernst
August von Mandelsloh, der seinen berühmten Gildenkollegen Kubin hoch schätzte,
gleichzeitig aber überzeugter Nationalsozialist und Vorsitzender der Reichskammer
für bildende Künste Oberdonau war, war für Kubin zweifellos vorteilhaft.259
Im Gegensatz zu den Schwierigkeiten mit der deutschen Kunstpolitik nach 1933,
kam es nach dem „Anschluss“ 1938 zu keinen größeren Problemen für Kubin. Si-
cher fühlen konnte er sich (wie viele andere KünstlerInnen) aber nie. Im Sommer
256 Vgl. Kubin-Archiv, Persönliche Dokumente-Nationalsozialismus, Dr. Mildner [Gestapo Linz] Linz
30.3.38 an Gestapo Außendienststelle Wels.
257 Vgl. Kubin-Archiv, Persönliche Dokumente-Nationalsozialismus, Dr. Mildner [Gestapo Linz] Linz
30.3.38 an Gestapo Außendienststelle Wels.
258 Umgekehrt stellt sich aber auch die interessante Frage, weshalb sich dieses ausschließlich für die
involvierten Dienststellen abgefasste Dokument heute im Kubin-Archiv befindet und damit ehe-
mals in Kubins Besitz. Helga Mitterbauer zieht daraus den wohl richtigen Schluss, dass Kubin als
bedeutender Bürger des kleinen Ortes Wernstein von diesem Vorgang zweifellos erfahren hat. Die
Vermutung, der Gendarmeriekommandant habe Kubin möglicherweise eingeweiht und ihm Ein-
sicht in das Schreiben gewährt, teile ich aber nicht. Vgl. Helga Mitterbauer, Unruhe um einen
Abseitigen. Alfred Kubin und der Nationalsozialismus, in: Theodor Kramer Gesellschaft (Hg.), Li-
teratur der „Inneren Emigration“ aus Österreich. Zwischenwelt 6, Wien 1998, 337–355, 344 f.
259 Vgl. Kubin-Archiv, Korrespondenz Mandelsloh-Kubin, tw. veröffentlicht in Gregor Martin Lech-
ner (Hg.), Ernst August Freiherr von Mandelsloh 1886–1962, Göttweig 1978.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463