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4.4 Nationalsozialismus | 399
Auch in London hätte unter dem Titel „Banned Art“ eine Ausstellung wie in Paris
stattfinden sollen. Entgegen der ursprünglichen politischen Intention war daraus
allerdings eine angepasste Ausstellung geworden, die unter dem Titel „Exhibition of
Twentieth Century Art“ nicht nur die verfolgte Kunst der Modernen, sondern auch
jene von in NS-Deutschland akzeptierten KünstlerInnen zeigte.270 Kokoschka zeigte
sich empört und lehnte seine geplante Teilnahme an der Ausstellung ab. An Carl
Moll schrieb er im Sommer 1938:
„Ich treibe doch keine Politik. Z.B. in London war geplant eine Ausstellung ‚Entartete
Kunst‘. Auf Betreiben von Berlin nach gewissen Methoden der englischen Politik gemäß
waren plötzlich auch Maler aus Berlin (Akademie) dort eingeladen, und ich habe die Er-
laubnis zurückgezogen, meine Bilder auszustellen (ich sollte 14 Bilder haben). Ich habe
auf einen sicheren Erfolg verzichtet [...] Aber ich motivierte meine Ablehnung damit, daß
ich eben nicht Politik mache wie die andern, mir nicht eine Rehabilitation im Ausland
erschleiche, indem ich mit den ‚Kollegen‘ im Ausland ausstelle, die mich in der Heimat,
für die ich fühle und mit der ich verwurzelt bin trotz allem, verfemen.“271
Kokoschkas Ablehnung wurde von den britischen Ausstellungsverantwortlichen
nicht akzeptiert. Da er nicht Besitzer der Bilder war, konnte sein Einspruch ignoriert
werden. Dem Katalog zufolge wurden 14 Werke Oskar Kokoschkas auf der Schau
ausgestellt.272
Werke Kokoschkas waren zu dieser Zeit nach wie vor in der Ausstellung „Ent-
artete Kunst“ im Deutschen Reich zu sehen. Nach der Präsentation in München,
wo die Ausstellung den Besucherrekord von etwa zwei Millionen erreicht hatte,
wurde sie als Wanderschau in mehreren deutschen Städten gezeigt, erste Station war
1938 Berlin.273 Nach dem „Anschluss“ Österreichs kam die Ausstellung auch nach
Salzburg und Wien.274 Kokoschka, der schon in den 1920er- und frühen 1930er-
Jahren Angriffsfläche kulturkonservativer Kritiker gewesen war, die nach der NS-
Machtergreifung tonangebend wurden, war in der Ausstellung „Entartete Kunst“
270 Vgl. Feilchenfeldt, „… meine Bilder zerschneidet man schon in Wien“, 268 ff.
271 OK an Carl Moll, [Prag, Sommer 1938], zit. nach Kokoschka, Briefe III, 73.
272 Vgl. Feilchenfeldt, „… meine Bilder zerschneidet man schon in Wien, 270. Auch das später in
Paris gezeigte zerschnittene Bild (Porträt Robert Freund) war, wie Presseberichte belegen, bei der
Londoner Ausstellung, wurde vermutlich aber nicht öffentlich gezeigt und nicht in den Katalog
aufgenommen. Vgl. ebd., 271.
273 Vgl. Katrin Engelhardt, Die Ausstellung „Entartete Kunst“ in Berlin 1938. Rekonstruktion und
Analyse, in: Fleckner (Hg.), Angriff auf die Avantgarde, 89–187.
274 Im September 1938, direkt im Anschluss an die Salzburger Festspiele, wurde die Ausstellung im
Salzburger Festspielhaus eröffnet, in Wien war sie vom 6.5. bis 18.6.1939 zu sehen.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463