Seite - 410 - in Zeitwesen - Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
Bild der Seite - 410 -
Text der Seite - 410 -
| 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum
Nationalsozialismus410
Der Vater war zweifellos für Bilgers politisches Weltbild eine prägende Persönlichkeit.
In den wenigen von der Künstlerin über sich selbst erstellten Kurzbiographien fand
der Vater immer zentrale Erwähnung. Besonders intensiv verwies sie in der 1944 für
eine nationalsozialistische Kulturzeitschrift verfassten Lebensdarstellung auf ihn.301
Ferdinand Bilger, 1875 in Innsbruck geboren, wuchs in Wien auf und promovierte
dort 1903 zum Doktor juris.302 Er war Mitglied der deutschnationalen Burschen-
schaft „Silesia“ und absolvierte nach seiner Promotion als Jurist noch ein Studium
der Geschichtswissenschaften. Zwischen 1907 und 1911 war er in Heidelberg Mit-
arbeiter des Deutschen Rechtswörterbuchs. Zu dieser Zeit war er bereits verheiratet,
drei Kinder wurden zwischen 1903 und 1910 geboren. Die in dieser Zeit geknüpften
engen Bindungen der Familie an Heidelberg blieben auch nach der Rückkehr nach
Graz bestehen. Nach Ende des Ersten Weltkriegs begann Ferdinand Bilgers Karriere
an der Universität Graz, an der er 1921 habilitierte, als Privatdozent und schließlich
als Professor lehrte. Seine Antrittsvorlesung fand im Mai 1938 kurz nach dem „An-
schluss“ Österreichs statt. Unter Rückbezug auf historische Daten reihte er einen Zu-
sammenschluss von Deutschland und Österreich in eine gewissermaßen historisch
logische Kontinuität ein und begrüßte diesen als „höchstes Gut“. Der Duktus der
Rede war klar deutschnational und antihabsburgisch, Adolf Hitler wurde als positive
Schicksalsfigur herausgestrichen.303 Die politischen Wege und Überzeugungen sei-
ner drei Kinder verliefen überaus divergierend: Die jüngste Tochter Irmtraut folgte
dem Vater in seiner deutschnationalen Gesinnung und ging noch weiter: Schon 1933
teilte sie dem Vater mit, dass sie in die NSDAP eintreten wolle. Der Vater äußerte
Verständnis, gab aber den Ratschlag, sich die Entscheidung gut zu überlegen:
„Wenn ich auf das eigentlich Sachliche eingehe, so zieht Dich zum Nationalsozialismus
das, was daran Liebe ist, nicht das, was darin Haß ist. Ich glaube Dich sehr zu kennen,
wenn ich auf Dich das Wort der Antigone des Sophokles anwende: Nicht mitzuhassen,
mitzulieben bin ich da.“304
301 Margret Bilger, Mein Entwicklungsgang, in: Kulturnachrichten des Gauleiters und Reichsstatthalters
in Oberdonau, Nr. 19, 11.5.1944. Vgl. Kapitel 2.5.
302 Diese und die weiteren biographischen Angaben zu Ferdinand Bilger aus: Maria Inzko, Ferdinand
Bilger als akademischer Lehrer, Dissertation, Graz 1977.
303 Teile der Vorlesung zit. in: Inzko, Ferdinand Bilger als akademischer Lehrer. Inzko verweist auch
darauf, dass Bilger seit März 1938 auch Mitglied des nationalsozialistischen Dozentenbundes war
und am 24. März 1938 seinen Diensteid leistete. Die Verleihung einer Professur für den zuvor nur
als außerordentlichen Professor tätigen Bilger steht daher wohl in unmittelbarem Zusammenhang
mit dem „Anschluss“.
304 Ferdinand Bilger (Vater) an Irmtraut Bilger, 14.5.1933, zit. nach Inzko, Ferdinand Bilger als akade-
mischer Lehrer, 48.
Open-Access-Publikation im Sinne der Lizenz CC BY 4.0
Zeitwesen
Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Titel
- Zeitwesen
- Untertitel
- Autobiographik österreichischer Künstlerinnen und Künstler im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1900–1945
- Autor
- Birgit Kirchmayr
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23310-7
- Abmessungen
- 17.3 x 24.5 cm
- Seiten
- 468
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 11
- Fragestellung und Ausgangsthesen 11
- Theoretische Bezugsrahmen 14
- Quellen 17
- „Zeitwesen“ oder: die ProtagonistInnen 20
- 1 Auto/Biographieforschung – KünstlerInnenforschung 33
- 2 KünstlerInnen über sich 79
- 2.1 Alfred Kubin – ein autobiographical life 80
- 2.2 Oskar Kokoschka – der biographische „Jongleur“ 105
- 2.3 Aloys Wach – Selbstbespiegelungen eines Suchenden 136
- 2.4 Erika Giovanna Klien – Autobiographische Fragmente 150
- 2.5 Margret Bilger – Autobiographisches wider Willen 164
- 2.6 Erstes Resümee oder: Wie KünstlerInnen über sich schreiben und dabei „biographische Formeln“ verwenden 175
- 3 KünstlerInnen und gesellschaftliche Diskurse 179
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 3.1.1 Alfred Kubin und die Misogynie der Moderne 185
- 3.1.2 „Mörder, Hoffnung der Frauen“: Oskar Kokoschka und die (modernen) Amazonen 206
- 3.1.3 Erika Giovanna Klien – schwierige Emanzipationswege einer „neuen“ Frau 214
- 3.1.4 Zerrissenheit und Identitätssuche – Geschlechterbilder bei Margret Bilger 220
- 3.2 Geschwindigkeit – Fortschrittseuphorie versus Kulturpessimismus 232
- 3.2.1 Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ als Versuchsstation der Fortschrittsverweigerung 236
- 3.2.2 „Im Riesengefängnis New York“: Erika Giovanna Klien und ihr Verhältnis zu Stadt, Geschwindigkeit und Technik 245
- 3.2.3 Der Rückzug aufs Land: Alfred Kubin und Margret Bilger 256
- 3.2.4 „Haste nicht und raste nie. Sonst hastet die Neurasthenie“: ein Exkurs zum Nervendiskurs 264
- 3.3 Esoterik – Spirituelle Sinnsuche im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert 271
- 3.4. Zweites Resümee oder: Welche Diskurse der Moderne die KünstlerInnen bewegten 308
- 3.1 Der Geschlechterdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts 180
- 4 KünstlerInnen und Politik – Von der Monarchie bis zum Nationalsozialismus 313
- 4.1 Die Legende vom unpolitischen Künstler – Zum Verständnis von Kunst und Politik bis 1945 315
- 4.2 Erster Weltkrieg und das Ende der k. u. k. Monarchie 319
- 4.3 Zwischen den Kriegen: Revolution(en), Republik(en), „Ständestaat“ 349
- 4.3.1 Der „Kunstlump“ – Oskar Kokoschka und die (deutsche) Revolution 353
- 4.3.2 Aloys Wach und die Münchner Räterepublik 360
- 4.3.3 Aus der Distanz: Erika Giovanna Klien und die österreichische Zwischenkriegszeit 368
- 4.3.4 „Weil ich nicht in der Vaterlandspartei bin“: Positionen zum „Ständestaat“ bei Oskar Kokoschka und Alfred Kubin 373
- 4.4 Nationalsozialismus 382
- 4.4.1 „… diese stummen Geister der Auflehnung“: Alfred Kubin und der Nationalsozialismus 385
- 4.4.2 Oskar Kokoschka: Selbstbildnis eines „entarteten“ Künstlers 397
- 4.4.3 „22° Waage“: Aloys Wach und der Nationalsozialismus 404
- 4.4.4 „… hätte ich aber die conträren Gesinnungen“: Margret Bilger und der Nationalsozialismus 409
- 4.5 Drittes Resümee oder: Wie politisch waren die „unpolitischen“ KünstlerInnen? 422
- Dank 426
- Abkürzungsverzeichnis 428
- Tabellen- und Abbildungsverzeichnis 429
- Quellen- und Literaturverzeichnis 431
- Archive und Sammlungen 431
- Zeitungen/Zeitschriften/Jahrbücher 432
- Literatur und gedruckte Quellen 432
- Personenregister 463