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II. Nationalsozialismus und postnazistische Restauration
90 zum Tode verurteilter Häftlinge aus einer Furcht vernachlässigte , die über das von ihm ein-
sehbare Maß hinaus zu parteipolitischer Willfährigkeit überging.208
Hinsichtlich der Ermordung der 44 sah das Gericht als erwiesen an , „dass Stich aus
Bequemlichkeit oder brutaler NS-Gesinnung ( … ) die Übergabe der Häftlinge an die
Gestapo zwecks Liquidierung erwogen hatte“; durch Verletzung seiner Amtspflich-
ten habe er „die Einmischung Gauleiter Jurys in Belange der Justiz geradezu herauf-
beschworen und sich dieser Einmischung dann aus Charakterschwäche nicht entge-
gengestellt , obwohl es um 44 Menschenleben ging und er als GStA die Pflicht gehabt
habe , deren Ermordung zu verhindern“.209 Demselben Johann Stich gedachte Liber-
tas 1957 , zwei Jahre nach seinem Ableben , als einem „Symbol für Charakterstärke und
echten Glaubenssinn“.210 Sein Amt habe er „gerecht und klug“ geführt , nach 1945 sei
er zum Opfer eines ungerechten Urteils geworden , das ihm die Gesundheit und letzt-
lich das Leben gekostet habe.211 Der Fokus auf die Opfer , die Bundesbrüder gebracht ,
und nicht auf jene , die sie verursacht hatten , erklärt eine bemerkenswerte Feststellung
Wolfgang Peitlers als Redner im Rahmen des hundertjährigen Liberten-Stiftungsfes-
tes 1960 : „( k )eine einzige Libertenhand“ sei zwischen 1918 und 1945 mit dem in diesem
Zeitraum „grauenhaft vergossenen Blut befleckt“ worden.212 Nicht nur der Fall Stichs ,
sondern auch die große Zahl im Zweiten Weltkrieg eingesetzter ( und nach dem Krieg
für längere Zeit in Gewahrsam genommener ) Liberten213 lassen diese Einschätzung
höchstenfalls im wörtlichen Sinne haltbar erscheinen.
II.5.2 Die Auseinandersetzung um das ‚burschenschaftliche Geschichtsbild‘ (ab 1956)
Von außen sind bis heute kaum Debatten unter Burschenschaftern in Österreich wahr-
nehmbar , wenn es um die Bewertung der nationalsozialistischen Ära und ihrer un-
mittelbaren Vorlaufphase geht. So verwundert es auch kaum , dass die erste , sogleich
breitere Kreise ziehende Auseinandersetzung dieser Art nach 1945 in der Bundesrepu-
blik , genauer : im DB-Organ Burschenschaftliche Blätter , ausgetragen wurde bzw. dort
ihren Anfang nahm. Den Auslöser lieferte ein im Oktober 1956 erschienener Bericht
von Horst Berndt ( B ! der Bubenreuther Erlangen ) über eine Tagung des ‚Roten Ver-
bandes‘ ( RV ), eines losen Zusammenschlusses relativ liberaler , modernisierungsberei-
208 Zit. n. Stadler 2007a , 269.
209 Ebd., 269 f.
210 So Stichs ‚Leibbursch‘ Fritz Fuchs , zit. n. Libertas 1967 , 153.
211 Vgl. Libertas 1967 , 69 und 303–305 , Zitat : 304. Auch die ADC-Festschrift von 1959 würdigt Stichs Amts-
führung in ähnlicher Weise ( vgl. Berka 1959 , 111 f. ).
212 Zit. n. Libertas 1967 , 252.
213 Vgl. ebd., 306–329.
„ IM NATIONALEN ABWEHRKAMPF DER GRENZLANDDEUTSCHEN“
Akademische Burschenschaften und Politik in Österreich nach 1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- „ IM NATIONALEN ABWEHRKAMPF DER GRENZLANDDEUTSCHEN“
- Subtitle
- Akademische Burschenschaften und Politik in Österreich nach 1945
- Author
- Bernhard Weidinger
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79600-8
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 634
- Keywords
- Burschenschaft, Studentenverbindung, Männerbund, Deutschnationalismus, Nationalismus, Rechtsextremismus, Konservatismus, Südtirol, Hochschulpolitik, VDU (Verband der Unabhängigen), FPÖ (Freiheitliche Partei Österreichs)
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- I. Einleitung 11
- II. Nationalsozialismus und postnazistische Restauration 45
- II.1 Völkische Korporierte im (und für den) Nationalsozialismus 45
- II.2 Korporationen und ‚Entnazifizierung‘ 52
- II.3 Die Wiedererrichtung der Bünde 56
- II.4 Rückeroberung von Öffentlichkeit 71
- II.5 Burschenschaftliche Vergangenheitsbewältigung 80
- II.5.1 Die erste Bestandsaufnahme Günther Berkas (1950/51) 83
- II.5.2 Die Auseinandersetzung um das ‚burschenschaftliche Geschichtsbild‘ (ab 1956) 90
- II.5.3 Burschenschaftliche Gedenkpolitik 96
- Exkurs: Zur Spezifik burschenschaftlicher Vergangenheitsbewältigung in Österreich 107
- II.5.4 Die Feldpost-Anthologie der Oberösterreicher Germanen (1967) 110
- Exkurs: Die Sprache der Vergangenheit 112
- II.5.5 Generationenverhältnis zwischen Konflikt und Konformismus 114
- II.5.6 Vergangenheitsbewältigung um die Jahrtausendwende 124
- II.5.7 Schlussbetrachtungen 127
- III. Burschenschaftliche Ideologie in Österreich 133
- III.1 Die Burschenschaften in Österreich als politische Vereinigungen 133
- III.2 Der burschenschaftliche Auftrag an den Einzelnen 150
- III.3 Burschenschaftliche Erziehung 164
- III.3.1 Der burschenschaftliche Erziehungsauftrag 164
- III.3.2 Ebenen und Orte burschenschaftlicher Erziehung 171
- III.3.3 Funktionen und Konsequenzen 177
- III.4 Politisch-ideologische Heterogenität und burschenschaftlicher Corpsgeist 181
- III.4.1 Meinungsvielfalt und -hegemonie 181
- Exkurs: Zur relativen Abweichung der Oberösterreicher Germanen 186
- III.4.2 Konflikt und Kontroversen 191
- III.4.3 Die Außenwahrnehmung: Burschenschaften als Monolith 201
- III.4.4 Ursachen und Folgen burschenschaftlicher ‚Geschlossenheit‘ 210
- III.5 Wandel und Beharrung 213
- III.5.1 Burschenschaften zwischen Avantgarde und Reaktion 214
- III.5.2 Die Restaurationsphase: weiter (fast) wie bisher 220
- III.5.3 Die 1960er-Jahre: Weckrufe und Reformanläufe 225
- III.5.4 Der Streit um die Ehrenordnung 229
- Exkurs: Das Duellwesen in Österreich nach 1945 232
- III.5.5 Die 1970er-Jahre: Aufbruchsstimmung und Backlash 233
- III.5.6 Gründe der Wandlungsresistenz 236
- III.6 Selbstbild: Gegen-Elite 249
- III.7 Völkischer Nationalismus als weltanschaulicher Angelpunkt 273
- III.8 Burschenschaften und Demokratie 302
- III.8.4 Der Einzelbund: ein ‚Parlament im Kleinen‘? 319
- III.8.5 Individuum und Kollektiv 326
- IV. Praxis burschenschaftlicher Politik 335
- IV.1 Burschenschaftliche Betätigung im politischen Sinn 335
- IV.2 Burschenschaftliche Betätigung im metapolitischen Sinn 355
- IV.2.1 Gegen ‚Zeitgeist‘ und ‚Umerziehung‘: Frühe burschenschaftliche Metapolitik 355
- IV.2.2 Wider die ‚österreichische Nation‘ 360
- IV.2.3 Gegen ‚Geschichtslügen‘: Burschenschaftliche Geschichtspolitik 365
- IV.2.4 Einsatz für ‚das Deutschtum‘: die ‚Volkstumspolitik‘ der Burschenschaften 374
- IV.2.5 ‚ Nach außen wirken‘: burschenschaftliche Publizistik und Öffentlichkeitsarbeit 377
- IV.2.6 ‚Neue Rechte‘ gegen ‚Neue Linke‘? 386
- IV.2.7 Rezeption der ‚Neuen Rechten‘ 399
- IV.2.8 Burschenschaftliche Metapolitik um die Jahrtausendwende 412
- IV.3 Burschenschaftliche Südtirol-Politik 416
- V. Burschenschaften und politische Parteien 443
- V.1 Völkische Korporationen als freiheitliche Kaderschmieden: eine statistische Annäherung 448
- V.2 Zur Überparteilichkeit des Burschenschaftswesens in Österreich 476
- V.3 Flügelkämpfe und Personaldebatten 489
- V.4 Programmatik und Policy-Ebene 511
- V.5 Parteienkooperation und Koalitionsoptionen 521
- V.6 Funktionen der FPÖ für die völkischen Korporationen 532
- V.7 Funktionen des völkischen Korporationswesens für die FPÖ 541
- V.8 Völkische Verbindungen und FPÖ: prekäre Interessengemeinschaft auf Gegenseitigkeit 550
- VI. Abschließende Überlegungen 557
- Anhang
- Literatur, publizierte Quellen, Chroniken und Festschriften 581
- Archive und Archivalien 603
- Verbindungsstudentische, völkische und freiheitliche Periodika 608
- Tabelle und Diagramme 609
- Zitierte eigene Interviews 609
- Abkürzungsverzeichnis 610
- Glossar: Organisationen, Organe, verbindungsstudentische Begriffe 612
- Personenregister 619