Page - 55 - in Gewalt im Computerspiel - Facetten eines Vergnügens
Image of the Page - 55 -
Text of the Page - 55 -
THEORIE UND METHODE 53
sprachgebrauch zu einem Füllwort für solche Prozesse werden, die man nicht als
Teil der ‚Realität‘ betrachtete. Bis heute setzt sich diese Tradition fort, auch und
insbesondere in der Berichterstattung über Computerspiele, wenn beispielsweise
vom „Realitätsverlust“ Jugendlicher beim Abdriften in „virtuelle Welten“ die Rede
ist.168
Ob der Begriff auch eine produktive analytische Funktion einnehmen kann,
ist umstritten. Die Beiträge des 2014 erschienenen „Oxford Handbook of Virtu-
ality“ zeugen von der Vielfältigkeit der Perspektiven und Definitionen, die sich
teils radikal unterscheiden und, wie sowohl der Herausgeber Mark Grimshaw in
seinem Vorwort als auch der Kulturanthropologe Tom Boellstorff in seinem Nach-
wort betonen, nicht auf gemeinsame Nenner bringen lassen.169
Besonders einflussreich für die kulturanthropologische beziehungsweise eth-
nografische Computerspielforschung ist Boellstorffs bereits 2008 (mit Rückgriff
auf Brian Massumi) formulierte Überlegung, dass „virtual“ nicht im Gegensatz
zu „real“, sondern in Abgrenzung zu „actual“ („faktisch“) gedacht werden müsse:
„The Oxford English Dictionary phrases this meaning of ‚virtual‘ as referencing something
‚that is so in essence or effect, although not formally or actually.‘ Virtuality can thus be
understood in terms of potentiality; it can be said to exist whenever there is a perceived
gap between experience and ‚the actual‘. This is now the most important meaning of
‚virtual‘ with regards to virtual worlds; ‚virtual‘ connotes approaching the actual without
arriving there.“170
Zwar ist die Auflösung des Binarismus zwischen „virtuell“ und „real“ hilfreich,
doch ersteren Begriff stattdessen über eine Leerstelle, einen „gap between virtual
and actual“171, zu definieren, greift zu kurz. Für Boellstorffs Anliegen erfüllt diese
Grundhaltung ihren Zweck, da so sein Forschungsfeld einer „virtuellen Welt“
168 | Vgl. exemplarisch Anja Hübner: Wie sich Onlinesüchtige aus der virtuellen Welt
befreien (22.05.2012). http://www.ard.de/home/ard/Wie_sich_Onlinesuechtige_aus_
der_virtuellen_Welt_befreien/69242/index.html. Mitunter wird in öffentlichen Diskursen
als eine Art Beleg für die Trennung von „virtuellen Welten“ und „realer Welt“ angeführt,
dass Online-Spieler selbst häufig den Begriff „real life“ als Gegenbegriff zu ihren Online-
Tätigkeiten verwenden. Das ist korrekt und auch ich selbst habe ihn bspw. in Interviews
in dieser Wortbedeutung benutzt. Dabei dient der Begriff aber vielmehr als Synonym für
„offline“ bzw. „Nicht-Spiel-Alltag“. Vgl. ausführlich dazu Christoph Bareither: Real Life.
Computerspielen zwischen Offline-Alltag und Online-Oberflächen. In: Timo Heimerdinger/
Silke Meyer (Hg.): Äußerungen. Die Oberfläche als Gegenstand und Perspektive der Euro-
päischen Ethnologie. Wien 2013, S. 119-137; vgl. auch Tom Boellstorff: Coming of Age in
Second Life. An Anthropologist Explores the Virtually Human. Princeton u.a. 2008, S. 20.
169 | Vgl. Mark Grimshaw (Hg.): The Oxford Handbook of Virtuality. New York 2014.
170 | Boellstorff: Coming of Age in Second Life, S. 19 [H.i.O.].
171 | Ebd.
Gewalt im Computerspiel
Facetten eines Vergnügens
- Title
- Gewalt im Computerspiel
- Subtitle
- Facetten eines Vergnügens
- Author
- Christoph Bareither
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3559-5
- Size
- 14.8 x 22.5 cm
- Pages
- 370
- Keywords
- Gewalt, Videospiele, Mediensoziologie, Computerspiel, Kulturanthropologie
- Category
- Medien
Table of contents
- 1. Einleitung 7
- 2. Theorie und Methode 15
- 3. Virtuell-körperlich 93
- 4. Kompetitiv und kooperativ 199
- 5. Dramatisch und deviant 247
- 6. Ambivalent 297
- 7. Zusammenfassung und Ausblick 321
- Literatur und Anhang 333
- Literatur 333
- Verzeichnis der zitierten Computerspielzeitschriftenbeiträge 353
- Verzeichnis der zitierten YouTube-Videos 359
- Verzeichnis der geführten Interviews 364