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103Das
Nationale Zeitalter
3 Das Nationale Zeitalter
Zur Mitte des 18. Jahrhunderts trat der Prozess der Herausbildung des modernen
Territorialstaates in jene Phase über, die gemeinhin als »Reformabsolutismus« oder
»klassischer« bzw. »aufgeklärter Absolutismus« bezeichnet wird. Die Machtbalan-
cekämpfe zwischen dem Zentralstaat und den dezentral und regional orientieren
Ständen hatten sich zugunsten des Ersteren verschoben. Die einer mittelalterlichen
Rechtsvorstellung anhängenden, also konservativen ständischen Kräfte konnten aus
der öffentlichen Verwaltung mehr und mehr zurückgedrängt und ihre Oppositions-
macht beschnitten werden. Während sich die Habsburgermonarchie zu Beginn des
18. Jahrhunderts noch als »monarchische Union von Ständestaaten«217 charakterisie-
ren lässt, wurden in den 1740er Jahren Verwaltungsreformen begonnen, die die re-
gional-föderalistische Struktur nach und nach ausschalteten. Ziel dahinter war eine
Steigerung der Effizienz, die im Kontext des rationalistischen Zeitgeistes, vor allem
im Wettkampf mit Preußen, ein Gebot der Stunde darstellte – freilich hinter dem
ideellen Vorwand einer Förderung des Wohlstandes der Bevölkerung. Ausgerechnet
die Länder Kärnten und Krain dienten dabei als Experimentierfeld.
Kärnten und Krain standen damals im Ruf, von »ständischer Misswirtschaft« ge-
geißelt zu sein. In den Augen des maria-theresianischen Reformers Wilhelm Graf
von Haugwitz sei bezüglich der finanziellen Notlage in Kärnten »in allen Reichen
der Welt schier kein gleiches Exempel anzutreffen«218. Sie sei dem Eigennutz der
Stände zu verdanken und nicht, wie etwa diese entgegneten, den venezianischen
Handelsbeschränkungen.219 In mehreren Reformschritten wurde den Ständen nun
die politische und finanzielle Verwaltung des Landes zu einem Großteil entzogen.
Als Schlüsselamt wurde jenes des bislang zahnlosen Landeshauptmanns reformiert.
Als reiner Staatsbeamter war er nun nicht mehr von ständischen Interessen abhängig.
Das Burggrafenamt, Inbegriff ständischer Macht, wurde ausgehöhlt und de facto
den Kompetenzen des Landeshauptmannes einverleibt. In weiteren Reformschrit-
ten der Folgejahre wurde auch das landständische, am Gewohnheitsrecht orientierte
Gerichtswesen zerschlagen.220 Um Zugriff auf die Untertanen, der bislang durch die
Grundherrschaften verwehrt war, zu erlangen, wurden Deputationen geschaffen, die
für Steuererhebungen im Militärbereich in Kreisämter geteilt wurden – in Kärnten
217 Wallas, A. A.: Die Konflikte (2002), 11.
218 Ebd., 19.
219 Wallas weist jedoch darauf hin, dass die Beurteilung des kaiserlichen Reformers einseitig und wohl
auch zu einem Gutteil als Vorwand zu werten sei, da die finanzielle Krise des Landes Kärnten nicht
nur der ständischen Misswirtschaft, sondern auch der komplexen wirtschaftlichen Situation geschul-
det war. Ebd., 11–20.
220 Ebd., 25–33.
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Title
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Subtitle
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Author
- Johannes Thonhauser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 402
- Keywords
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353