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243Sieben
Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens
2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen
Viesèr charakterisiert Hemma von Gurk als fürsorgliche Herrin, in die jene mütter-
lichen Aspekte hineinprojiziert werden, die den Typus »patrimonialer Herrschaft«
in Kärnten um seine weibliche Seite ergänzen : Strenge und Gerechtigkeit einerseits
werden im Bild der Hemma durch Barmherzigkeit und liebende Fürsorge anderer-
seits ergänzt.
So zeigt sich die Adelige, die (der Legende nach) ihre beiden Söhne nach einem
Knappenaufstand verloren hatte, selbst den mutmaßlichen Aufständischen gegen-
über als vergebende Richterin :
Hemma wußte wohl, welche Untaten in dieser Gegend schon geschehen waren, doch sie
sah nur das Mitleid, die Liebe, das ungelenke Dienenwollen. Sie war die Mutter des Landes.
Sollte sie ihre ungeratenen Kinder verstoßen ? Bald würde vielleicht der eine oder andere
vor ihrem Gerichte stehen, und sie mußte mit aller Strenge gegen ihn verfahren. Heute
aber sollten sie erkennen, daß sie ihre Nöte verstand, ihr hartes Leben. Und wenn sie auch
ihre Strenge erfuhren, so sollten sie doch stets an ihre Liebe glauben dürfen.96
In Viesèrs Bild von Hemma als Landesmutter zeichnen sie nicht nur Fürsorge und
Gerechtigkeit aus, sondern auch der Verzicht auf jegliche Standesdünkel und Un-
nahbarkeit. Im Gegenteil, die Einfachheit des untertänigen Lebens übt auf sie grö-
ßeren Reiz aus als aristokratisches Geplänkel und oberflächliche Eitelkeit.
[W]ie wenig ihr noch daran lag, eine große Herrin zu sein, und wie inniglich eins sie sich
mit den mühsalbeladenen, einfachen Bäuerinnen und Mägden fühlte. Wenn sie auf den
Zusammenkünften der Edlen erscheinen mußte, so war es ihr oft, als gehöre sie nicht mehr
zu ihnen. Die eifrig besprochenen Streitfragen über Pferde, Mode, Damespiel, über Rang
und Schild, Minne und Abenteuer dünkten sie leer und lächerlich. Es bedrückte sie, zu
sehen, wie die Nichtigkeiten die Menschen von ihrem wirklichen Leben abdrängten. Sie
wußte freilich, daß hinter höfischer Form und spielerischen Worten manch blutendes Herz,
manch echte Liebe sich verbarg. Doch Eitelkeit und Spielerei wucherten darüber hin und
erstickten das Echte, aus der Tiefe Gewachsene.
Es war ihr wohler, wenn sie auf einer morschen Hausbank saß und derbe, ungelenke
Worte hörte, die von Geburt und Tod, Lebenskampf und Erdsegen, von Elend und Sünde
sprachen. Da war es ihr, als sei sie der Wahrheit näher.97
96 Viesèr, D.: Hemma von Gurk (1965), 389.
97 Ebd., 392.
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Title
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Subtitle
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Author
- Johannes Thonhauser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 402
- Keywords
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353