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239Sieben
Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens
Dolores Viesèrs Roman, der die Heilige der Kärntner Bevölkerung ans Herz
wachsen lassen sollte, erschien im Frühjahr 1938 und hat das Bild der »deutschen
Heiligen« in weiterer Folge verfestigt. Ihm ist das Hauptaugenmerk dieses Kapitels
gewidmet.
2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938):
eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten71
Dolores Viesèr wurde 1904 als Maria Wilhelmine Wieser in Hüttenberg geboren.
Ihre Familie, vor allem der Großvater, war stark monarchistisch eingestellt. Viesèrs
Vater starb an der Spanischen Grippe, als sie zehn Jahre alt war. Ihre Mutter, die sie
sehr verehrte, starb sieben Jahre später.72 Gemeinsam mit ihren beiden Brüdern zog
die Vollwaise daraufhin von Hüttenberg nach Klagenfurt, um dort Arbeit zu finden.
In dieser existentiell bedrohlichen Situation fand Viesèr im Glauben Rückhalt.73 Als
sie bei einer Frühmesse im Klagenfurter Dom aus der Bank fiel, nahmen sich die
Geistlichen ihrer an und verhalfen ihr zu einer Arbeit als Kontoristin in der Dom-
bücherei der St.-Josef-Bücherbruderschaft.74 Um ihrer angeschlagenen Gesundheit
willen empfahl ihr ein Arzt einen Klimawechsel75 und man ermöglichte ihr eine
Stelle als Küchengehilfin bzw. Köchin in einem Gästehaus in Hall in Tirol. Das Gäs-
tehaus wurde von belgisch-französischen Nonnen des dortigen Herz-Jesu-Klosters
betrieben, das von den Habsburgern gefördert wurde.76 In ihrer Freizeit ging die
junge Frau, die nur eine rudimentäre Schulbildung genossen hatte, dem Schreiben
nach, und so entstand im Laufe der Zeit ihr erster Roman, der 1928 veröffentlicht
werden sollte. Das Singerlein erzählt von einem Knaben, der im 18. Jahrhundert nach
dem Tod seines Vaters in der Singschule der Franziskaner in St. Veit aufwächst. Der
Roman kreist um das Thema »Versuchung durch die Außenwelt« und spiegelt schon
hier die katholische Gesinnung der Autorin wider. In der Figur des jugendlichen
Knaben, der den Versuchungen in Gestalt einer verführerischen adeligen Deutschen
und eines Italieners widersagt und am eigenen Totenbett sogar seinen liederlichen
Freund zum Eintritt ins Kloster überredet, tritt »die Gestalt des sanften Märtyrers
an die Stelle des heroischen Kriegers. Damit befindet sich der Roman in einem star-
71 Viesèrs Roman wurde vom Autor anlässlich der 80. Wiederkehr seines Erscheinungsjahres auch als
Zeitschriftenartikel behandelt. Thonhauser, J.: Herrin – Landesmutter – Heilige (2018).
72 Welzig, E.: Leben und überleben (2006), 257. Viesèr beeindruckte vor allem die tiefe Frömmigkeit
ihrer Mutter. »Sie hat ihr ganzes Unglück getragen«. Dolores Viesèr zit. ebd., 257.
73 Schuh, E.: Dolores Viesèr (2003), 690 f.
74 Müller, W.: Dolores Viesèr (2010), 618.
75 Welzig, E.: Leben und überleben (2006), 257.
76 Schuh, E.: Dolores Viesèr (2003), 690 f.
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Title
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Subtitle
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Author
- Johannes Thonhauser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 402
- Keywords
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353