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23Hinführung
desländern. Wiederum wird aber deutlich, dass dies in Kärnten am wenigsten ausge-
prägt ist. Überdies lässt sich aus diesen Zahlen schließen, dass in Kärnten vor allem
das Familienleben als Privatbereich angesehen wird, in dem man die Kirche kaum
noch mitreden lassen möchte. Diese Beobachtung deckt sich mit der These des Reli-
gionssoziologen Franz Höllinger, der davon ausgeht, dass historisch gesehen beson-
ders die kirchlichen Normen im Bereich der Sexualität zumindest im germanisch ge-
prägten Kulturraum das Verhältnis der Menschen zur Kirche nachhaltig belasteten.40
Die dargestellten empirischen Befunde sollen vorerst jedenfalls genügen, um die
vorangestellte These, Kärnten sei auch in Bezug auf die gesellschaftliche Wahrneh-
mung der katholischen Kirche ein Sonderfall unter den österreichischen Bundes-
ländern, zu untermauern. Gleichzeitig muss darauf hingewiesen werden, dass sta-
tistische Daten freilich mit einer gewissen Vorsicht betrachtet werden sollten – sie
»übersetzen« und reduzieren die Wirklichkeit in numerische Daten und sollten auch
so gelesen werden. Fallzahlen, Fragestellungen und Stichproben generieren immer
eine gewisse Unschärfe, die hier berücksichtigt werden muss. Insofern spiegeln die
Zahlen immer nur Tendenzen wider, die aber im vorliegenden Fall eindeutig sind :
Die Haltung der Menschen zur katholischen Kirche ist in Kärnten offenbar skepti-
scher bzw. ablehnender als in anderen ländlichen Regionen Österreichs.
Warum ist das so ? Welche innerkirchlichen, gesellschaftlichen oder gar politi-
schen Hintergründe hat dieses Phänomen historisch gesehen ? Und inwiefern ist all
das mit dem eingangs festgestellten Zusammenhang zu den anderen, Kärnten als
Sonderfall kennzeichnenden Phänomenen in Verbindung zu bringen ? Diesen Fra-
gen möchte die vorliegende Arbeit nachgehen. Dazu muss aber zunächst genauer
erörtert werden, worin dieser Sonderfall besteht.
2.2 Der Sonderfall Kärnten und die Kirche
Die Bezeichnung Kärntens als Sonderfall ist die Adaption der auch im Selbstbild
vieler Kärntner und Kärntnerinnen verankerten Ansicht, dass Kärnten »anders«
sei.41 Sie findet ihren deutlichsten Ausdruck im gleichnamigen Buch des Kärntner
Zeithistorikers Hellwig Valentin Der Sonderfall. Kärntner Zeitgeschichte 1918–2004.42
Bereits im Vorwort zählt der Autor insgesamt 25 »›Sonderfälle‹ des zeitgeschichtli-
chen Geschehens«43 auf, die sich vorrangig – aber nicht nur – auf politische Beson-
40 Höllinger, F.: Volksreligion und Herrschaftskirche (1996), 20.
41 Je nach tagespolitischer Interessenlage wird diese Feststellung auch immer wieder von diversen Me-
dien aufgegriffen. Vgl. z. B. Kirchengast, J.: Kärntner (2009) oder Winkler, H.: Kärntner Seele (2012).
42 Valentin, H.: Der Sonderfall (2005). Das Standardwerk zur Kärntner Zeitgeschichte von 1918 bis 2004
reicht mittlerweile in einer zweiten, überarbeiteten Auflage bis zum Jahr 2008.
43 Ebd., 15.
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Title
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Subtitle
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Author
- Johannes Thonhauser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 402
- Keywords
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353