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Kirche und Habitus im kulturellen
Gedächtnis270
so aber einer nach dem anderen von den Bauern stillschweigend enthauptet worden,
sobald sie aus dem anderen Ende des Loches in der Kirche ihren Kopf steckten.216 Im
Lavanttal wiederum wird der Brauch des Osterfeuers mit der türkischen Belagerung
in Verbindung gebracht : Die schlauen Bauern auf den Hängen der Sau- und Koralm
hätten große Feuer angezündet und Böller abgeschossen, worauf die im Tal lagern-
den Türken aus Furcht, umzingelt zu werden, abgezogen seien.217
Wie das letzte Beispiel zeigt, entsprangen solche Sagen häufig einem ätiologi-
schen Interesse. Dass in ihnen das »einfache« Volk im Zentrum steht, resultiert
selbstverständlich auch aus dem sozialen Milieu ihrer Erzähler und Erählerinnen.
Für Kärnten sticht die überaus starke Präsenz des Türkenthemas in der ländlichen
Sagentradition ins Auge und hält das Bewusstsein wach, von den weltlichen und
geistlichen Herren – von Staat und Kirche – im Stich gelassen worden und den plün-
dernden und mordenden »Rennern und Brennern« ausgeliefert gewesen zu sein. So
dienen die Sagen zur Bewältigung dieser erschütternden Erfahrung, indem sie als
»Gegengeschichten«, in denen die Bauern die feindlichen Horden überlisten oder
gar besiegen, erzählt werden und im kollektiven Gedächtnis das Selbstbild stärken.
Völlig anders verhält es sich mit der kollektiven Erinnerung an die darauf folgenden
Jahrhunderte.
2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis
Der Kirchenhistoriker Karl-Heinz Frankl bezeichnete die gegenreformatorischen
Maßnahmen in Kärnten als »Vergewaltigung der Gewissen in großem Stil.«218 Tat-
sächlich ist die Wortwahl hier so bestürzend wie zutreffend. Bei Opfern von Ver-
gewaltigungen können häufig Folgewirkungen dieser traumatisierenden Erfahrung
beobachtet werden. Das Widerfahrnis wird als derart einschneidender Eingriff in die
persönliche Integrität gesehen, dass es häufig äußerst schwerfällt, es zur Sprache oder
gar zur Anzeige zu bringen. Als Trauma aus dem Gedächtnis verdrängt, tritt es oft
dann erst wieder in den Vordergrund, wenn das Opfer sich in Situationen befindet,
in denen eine ähnliche Gefährdungslage empfunden wird.
Ähnliches kann nun auch bei kollektiven Traumata auftreten. Erschütternde Er-
fahrungen machten viele Kärntner und Kärntnerinnen in der Zeit des kon fes sio nellen
Absolutismus. Verfolgungen, Bekehrungszwang, Denunziationen, Kindesabnahme
und Deportationen einerseits, aber auch die Ausprägung einer eigenständigen evan-
gelischen Tradition andererseits hinterließen tiefe Spuren im kollektiven Gedächtnis
des Landes. So stellt der Kirchenhistoriker Rudolf Leeb fest : »Diese mentalitäts-
216 Perkonig, J. F.: Das Loch (1942), 194 f.
217 Graber, G. (Hg.) : Sagen aus Kärnten (1941), 303.
218 Frankl, K. H.: Konfessionalisierung (2000), 231.
Open Access © 2019 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO.KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Die Kirche und die »Kärntner Seele«
Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Title
- Die Kirche und die »Kärntner Seele«
- Subtitle
- Habitus, kulturelles Gedächtnis und katholische Kirche in Kärnten, insbesondere vor 1938
- Author
- Johannes Thonhauser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23291-9
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 402
- Keywords
- Kärnten, katholische Kirche, kulturelles Gedächtnis, Habitus, Christlicher Ständestaat, nationalsozialistische Bewegung, Switbert Lobisser, Dolores Viesèr, Emilie Zenneck, Hans Sittenberger
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Danksagung 11
- Die katholische Kirche und der Sonderfall Kärnten 13
- 1 Vorbemerkungen 13
- 2 Hinführung 17
- 3 Theoretische Vorüberlegungen 30
- 3.1 Soziologische Grundannahmen 31
- 3.2 Kulturelles und kollektives Gedächtnis 39
- 3.3 Zum methodischen Umgang mit Kunst und Literatur 49
- 1 Missionierung und Christianisierung 59
- 1.1 Zur Missionierung und Christianisierung in Kärnten 60
- 1.2 Politische und kirchliche Entwicklungslinien Kärntens im Hochmittelalter 63
- 1.3 Die Kirche und die territoriale Integration Kärntens im Spätmittelalter 67
- 1.4 Religiöses Leben und kirchliche Struktur im spätmittelalterlichen Kärnten 69
- 2 Das Konfessionelle Zeitalter 73
- 3 Das Nationale Zeitalter 103
- Kirche und Habitus im »Christlichen Ständestaat« 129
- 1 Hinführung 129
- 2 Die Kirchenaustrittsbewegung in Kärnten 1933 bis 1938 151
- 2.1 Hinführung 151
- 2.1.1 Der Geheimerlass vom 10. Juli 1933 155
- 2.1.2 Zur politischen Parteinahme der Seelsorger in den Kärntner Pfarren 157
- 2.2 Zur allgemeinen Entwicklung der Kirchenaustrittsbewegung 1933 bis 1938 162
- 2.2.1 Vom Geheimerlass zu den Silvestertumulten 1933/34: die Ruhe vor dem Sturm 163
- 2.2.2 Von den Silvestertumulten 1933/34 bis zum Juliputsch 1934: der Exodus aus der Kirche 165
- 2.2.3 Vom Putsch 1934 zum Urgenzschreiben 1936: Es brodelt unter der Oberfläche weiter 177
- 2.2.4 Vom Urgenzschreiben 1936 bis zum »Anschluss« 1938: Vorbereitungen zum Massenaustritt 179
- 2.3 Kirchenaustritt aus politischer Opposition zum Ständestaat 181
- 2.4 Zur Rolle der Pfarrers und der katholischen Kirche als Institution 187
- 2.5 Zur Rolle der evangelischen Kirche 197
- 2.6 Die Nazi-Bewegung aus dem Blickwinkel katholischer Geistlicher 204
- 2.7 Wiederverheiratungswillige und Alternativreligiöse 212
- 2.1 Hinführung 151
- 3 Zwischenresümee 216
- Kirche und Habitus im kulturellen Gedächtnis 223
- 1 Hinführung 223
- 2 Sieben Erinnerungstraditionen im kulturellen Gedächtnis Kärntens 225
- 2.1 Die Missionierung Kärntens im kulturellen Gedächtnis 225
- 2.2 Hemma von Gurk als Schlüsselfigur kirchlicher (Gedächtnis-) Geschichte in Kärnten 233
- 2.2.1 Zur Heiligsprechung einer »deutschen Heiligen« 235
- 2.2.2 Dolores Viesèrs Hemma von Gurk (1938): eine christliche »Gegengeschichte« in »unchristlichen« Zeiten 239
- 2.2.2.1 Die Kärntner Landesmutter und ihre Untertanen 243
- 2.2.2.2 Die Kärntner als die »besseren Deutschen« 246
- 2.2.2.3 Das Zusammenspiel von Natur und Mensch 247
- 2.2.2.4 Zur Rolle von Klerus und Kirche 249
- 2.2.2.5 Von Knappen und Putschisten 252
- 2.2.2.6 Wider die Kritiker der Heiligsprechung 255
- 2.2.2.7 Zur Rezeption von Dolores Viesèr und ihres Romans Hemma von Gurk 257
- 2.3 Die »Türkenkriege« im kulturellen Gedächtnis Kärntens 260
- 2.4 Gegenreformation und Geheimprotestantismus im kulturellen Gedächtnis 270
- 2.5 Die Franzosenzeit im kulturellen Gedächtnis Kärntens 282
- 2.6 Klerus und Abwehrkampf im kulturellen Gedächtnis Kärntens amBeispiel von Josef F. Perkonigs Tragödie Heimsuchung (1920) 302
- 2.7 Ständestaat und Nationalsozialismus im kulturellen GedächtnisKärntens am Beispiel von Switbert Lobisser 318
- 3 Sieben Dimensionen des Kärntner Habitus 336
- Zusammenfassung und Ausblick Kirche, Habitus und kulturelles Gedächtnis in Kärnten 344
- 1 Rückblick 344
- 2 Ausblick 348
- 3 Zusammenfassung 350
- Anhang 353
- 1 Abkürzungsverzeichnis 353