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Grundlagen der Untersuchung 45
trauten Menschen zu erahnen oder zu verstehenâ10. Entsprechend funktio-
niert auch die kreative Arbeit des literarischen Autors, die auf der Analogie
zwischen praktischem und dichterischem WeltverstÀndnis basiert bzw. ihre
literarische Konstruktion auf der â wie immer Ă€sthetisch verfremdeten â
Grundlage der âalltagspraktischenâ Erfahrung entwirft.11 Die gleichsam âonto-
logische[ ] Ăbereinstimmung zwischen den mentalen Strukturen und den ob-
jektiven Strukturen des sozialen Raumsâ12 stellt eine kardinale Bedingung fĂŒr
die âErzĂ€hlbarkeitâ von Welt und damit auch fĂŒr Flauberts â oder hier Musils
â Roman dar : Das bewusste oder unbewusste Weltwissen des Autors setzt ihn
nÀmlich in die Lage, Figuren und Konstellationen zu entwerfen, deren Hand-
lungen und Aussagen einer gewissen âWahrscheinlichkeitâ bzw. einer inneren
PlausibilitĂ€t entsprechen, weil sie der nichtdiskursiven âLogik der Praxisâ13
entspringen und solcherart bei der LektĂŒre einen Evidenz- und Wiedererken-
nungseffekt auslösen. Die einzelnen Romanfiguren sind demnach Àhnlich wie
ârealeâ Menschen durch einen sie hervorbringenden individuellen Habitus14
definiert, mit anderen Worten : durch âeine Art generativer Formelâ15, die man
sich als âstrukturierte und strukturierende Strukturâ vorzustellen hat, wie Bour-
dieu (in der deutschen Ăbersetzung etwas verklausuliert) bemerkt :
Da strukturierte Produkte (opus operatum) derselben strukturierenden Struktur (mo-
dus operandi), von dieser hervorgebracht durch RĂŒckĂŒbersetzungen entsprechend der
spezifischen Logik eines Feldes, sind die Praxisformen und Werke eines Akteurs fern
10 Bourdieu : Die Regeln der Kunst, S. 35.
11 Vgl. Bourdieu : Meditationen, S. 174 : â[W]enn der Akteur die ihm vertraute Welt unmittelbar
erfaĂt, so deswegen, weil die dabei verwendeten kognititiven Strukturen aus der Einverleibung
der Strukturen der Welt resultieren, in der er handelt ; weil die Konstruktionselemente, die er
verwendet, um die Welt zu erkennen, von der Welt konstruiert wurden. Diese praktischen Prin-
zipien zur Organisation des Gegebenen werden ausgehend von der Erfahrung hÀufig angetrof-
fener Situationen konstruiert und können bei wiederholtem Scheitern ĂŒberholt oder verworfen
werden.â Dazu auch Bourdieu : Die mĂ€nnliche Herrschaft, S. 20.
12 Bourdieu : Ist interessenfreies Handeln möglich ?, S. 141.
13 Bourdieu : Sozialer Sinn, S. 147â179 ; ders.: Meditationen, S. 65 ; zur ingeniösen Anverwandlung
durch die Literatur vgl. ders.: Die mÀnnliche Herrschaft, S. 135.
14 Im Unterschied zur Konstruktion des Klassenhabitus ; nach Bourdieu : Sozialer Sinn, S. 113,
âwerden die besonderen Habitusformen der verschiedenen Mitglieder derselben Klasse durch
ein VerhÀltnis der Homologie vereinheitlicht, d. h. durch ein VerhÀltnis der Vielfalt in Homoge-
nitÀt, welche die VielfÀltigkeit in der charakteristischen HomogenitÀt ihrer gesellschaftlichen
Produktionsbedingungen widerspiegelt : jedes System individueller Dispositionen ist eine strukturelle
Variante der anderen Systeme, in der die Einzigartigkeit der Stellung innerhalb der Klasse und
des Lebenslaufs zum Ausdruck kommt.â
15 Bourdieu : Die Regeln der Kunst, S. 35.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208