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Grundlagen der Untersuchung 55
dung und Kontingentsetzung konventionalisierter Symbolisierungen, etwa im
Rahmen seiner ironischen Gestaltung der Parallelaktion, âdie EntrĂŒstung von
Lesern aus, die fĂŒr Werke, denen die beschwörende Magie seines Schreibens
fehlt, ansonsten viel Nachsicht aufbringenâ52. Aussagen ĂŒber die faktuale so-
ziale Welt erfolgen im Medium fiktionaler literarischer Texte freilich auf eine
Weise, in der sie ânicht wirklich ausgesagtâ werden :
Die Entschleierung findet darin ihre Grenze, daĂ der Schriftsteller gewissermaĂen die
Kontrolle bewahrt ĂŒber die Wiederkehr des VerdrĂ€ngten. Der von ihm vollzogene
Formgebungsakt funktioniert wie ein allgemeiner Euphemismus, und die von ihm
vorgelegte literarisch entwirklichte und neutralisierte Wirklichkeit erlaubt ihm, einen
Erkenntniswillen zu befriedigen, der bereit ist, sich mit der Sublimierung zufriedenzu-
geben, die ihm die literarische Alchimie vorlegt.53
Wie weit die abschlieĂend zitierten Worte auch auf Musil zutreffen, wird
noch zu diskutieren sein. Abgesehen davon scheint Bourdieus Begriff des
âEuphemismusâ nicht ganz glĂŒcklich gewĂ€hlt, impliziert er doch eine un-
nötige â und wohl auch ungewollte â Abwertung des von ihm qualifizierten
âFormgebungsaktesâ, die etwa Hans-Edwin Friedrich zur Behauptung verlei-
tet hat, dass âFiktionalitĂ€t, eine der wichtigsten Kategorien der Literaturâ, aus
das vor uns da ist und uns in Zeit und Raum trĂ€gt, das System ist. [âŠ] Ein System ist eine Menge
von Beziehungen, die unabhĂ€ngig von den verknĂŒpfenden Elementen fortbestehen und sich
verĂ€ndern. [âŠ] Lacans Bedeutung liegt in dem Nachweis, dass durch den Diskurs des Kranken
und die Symptome seiner Neurose hindurch die Strukturen der Sprache selbst sprechen : ihr
System und nicht etwa das Subjekt âŠâ Ăhnlich wie bei Lacan ist das âRealeâ auch bei Bourdieu
symbolisch nicht greifbar, ja â hier im Unterschied zu Lacan â selbst nicht einmal sprachanalog
strukturiert, obgleich das Symbolische die einzige Möglichkeit einer reflexiven AnnÀherung er-
öffnet. Jeder Versuch einer sprachlichen VergegenwĂ€rtigung des âRealenâ beruht auf einer stets
partikularen Perspektive und kann allenfalls gewisse Teilaspekte davon sichtbar machen, da das
âRealeâ â analog zur phonetischen Ebene der Sprache â zwar eine sinnerzeugende Ordnung
aufweist, selbst aber keinen Sinn in sich birgt. Auch Foucault : Die Ordnung der Dinge, S. 23,
spricht hinsichtlich der Zivilisation von âder rohen Tatsache, daĂ es unterhalb ihrer spontanen
Ordnungen Dinge gibt, die in sich selbst geordnet werden können, die zu einer gewissen stum-
men Ordnung gehören, kurz : daĂ es Ordnung gibtâ. Diese den strukturalistisch geprĂ€gten Den-
kern gemeine Grundannahme, die dem konstruktivistischen Ansatz nur scheinbar widerspricht,
vereint so unterschiedliche Theoretiker wie Lacan, Foucault und Bourdieu.
52 Bourdieu : Die Regeln der Kunst, S. 180 f. So diskreditiert etwa Reich-Ranicki : Der Zusammen-
bruch eines groĂen ErzĂ€hlers, S. 178 f., die ErzĂ€hlkonstruktion des Mann ohne Eigenschaften als
zugleich âlĂ€ppisches wie pathetisches Wiener Gesellschaftsspielâ, dem ein âHauch von Albern-
heitâ anhafte. Die Parallelaktion sei âziemlicher Unsinnâ bzw. ânichts Anderes als ein Zeitver-
treib wohlhabender Leute, die allesamt so gut wie nichts zu tun haben.â
53 Bourdieu : Die Regeln der Kunst, S. 66 f.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208