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Teil I:
Grundlegung60
tik als Autor, der jedem literatursoziologischen Interesse den Boden entzieht,
indem er in gleichsam prĂ€nietzscheanischer Weise Sprachkritik ĂŒbe : âDie
Macht der rhetorischen Schablone liegt im Subjekt, dessen BewuĂtsein sie
prĂ€gt, nicht im Objekt, das sie nicht erschlieĂen kann und will.â72 In der fĂŒr
sie konstitutiven âStruktur ateleologischer Bewegtheitâ73 erweist sich die
Ăducation sentimentale demnach als hellsichtige Vorwegnahme der âneuen
UnĂŒbersichtlichkeitâ : âDie diskursiv ĂŒbersetzbare AgonalitĂ€t insgesamt, die
Identifizierbarkeit der Oppositionen, die Möglichkeit politischer Authenti-
zitÀt ist aus der Welt von Flauberts Roman verschwunden : in diesem Sinne
handelt die Education im [sic] politischen Posthistoire.â74
TatsĂ€chlich sind die âGrĂŒndeâ, die Flauberts Protagonisten FrĂ©dĂ©ric und
Deslauriers selbst âfĂŒr ihr Scheitern geltend machen wollen, le hasard, les circon-
stances, lâĂ©poque, von jener Beliebigkeit, die ihre Nichtigkeit und Austauschbar-
keit impliziertâ.75 Bourdieu hat nie Gegenteiliges behauptet. Doch folgt daraus
keineswegs, dass es in der immanenten Logik des Romans nicht andere GrĂŒnde
fĂŒr das soziale Scheitern der Hauptfiguren gibt, die ihnen selbst â und viel-
leicht sogar dem ErzĂ€hler bzw. dem Autor â verschlossen blieben. An dieser
Stelle muss weder die basale interpretatorische Regel bemĂŒht werden, dass der
Autor nicht als der beste oder auch nur als ein besonders privilegierter Leser
seines Werks zu betrachten ist76, noch die seit der Krise des Historismus banal
gewordene Einsicht, dass eine kritische historische Untersuchung ihren MaĂ-
stab und ihre analytischen Kategorien nicht aus dem untersuchten Gegenstand
selbst zu beziehen hat, will sie nicht dazu verdammt sein, âbei jeder geschicht-
lichen Epoche die Illusion dieser Epoche teilen [zu] mĂŒssenâ77.
SpÀtestens der publizierte literarische Text gewinnt als gegebene EntitÀt
sui generis ein Eigenleben. Er ist deshalb nicht nur produktionsÀsthetisch auf
seinen Ă€uĂeren konzeptionellen Ursprung (Modus operandi), sondern auch
werk Àsthetisch auf seine konstitutiven internen Strukturen (Opus operatum)
72 Ebd., S. 66.
73 Ebd., S. 67.
74 Ebd., S. 66.
75 Ebd., S. 67.
76 Vgl. etwa Eco : Zwischen Autor und Text, S. 88, 91 u. 93.
77 So schon Marx/Engels : Die deutsche Ideologie, S. 39. Dies gilt nicht nur fĂŒr geschichtswissen-
schaftliche Untersuchungen, sondern auch fĂŒr die Literaturwissenschaft, die sich als kritische
Disziplin wohl keineswegs auf eine (ohnehin bloĂ zu rekonstruierende) bewusste Autorinten-
tion beschrÀnken kann ; vgl. etwa Eisele : Realismus-Problematik, S. 533. Mit dem Hinweis auf
die kategorielle Differenz zwischen Untersuchungs- und Metaebene lassen sich auch zahlreiche
EinwÀnde entkrÀften, die Séginger : Flaubert contre Flaubert, S. 91 ff., erhoben hat.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208