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							65Grundlagen
der Poetik Musils
pologien der Zwischenkriegszeit augenfĂ€llig abhebt.3 Um das zu begrĂŒnden,
wird sich die Analyse zunÀchst auf ausgewÀhlte Passagen zweier nichtfiktio-
naler zeit- und gesellschaftskritischer Texte Musils konzentrieren, den Mann
ohne Eigenschaften hingegen, dessen Konzept von Gesellschaft â wie Böhme zu
Recht betont hat â ĂŒber weite Strecken auf dem Gestaltlosigkeitstheorem ba-
siert4 und in dem es auch wiederholt verhandelt wird (vgl. etwa MoE 413), aus
heuristischen GrĂŒnden vorerst ausklammern : Neben dem hier besonders ein-
schlÀgigen Essayfragment Der deutsche Mensch als Symptom (1923) handelt es
sich um den Essay Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste,
der 1922 in dem von Julius Meier-GrÀfe herausgegebenen Ganymed. Jahrbuch
fĂŒr die Kunst erschienen ist. Angestrebt wird nicht deren umfassende Interpre-
tation, sondern die eher punktuelle Rekonstruktion des Zusammenhangs von
âGestaltlosigkeitâ und politischer Anthropologie.
Die Ausgangsbeobachtung von Robert Musils Essay Das hilflose Europa oder
Reise vom Hundertsten ins Tausendste klingt symptomatisch : âZweifellos machen
wir seit zehn Jahren Weltgeschichte im grellsten Stil und können es doch ei-
gentlich nicht wahrnehmen. Wir sind nicht eigentlich geĂ€ndert wordenâ. Aus
âbetriebsame[n] BĂŒrger[n]â seien â so Musil â im Krieg plötzlich âMörder,
TotschlÀger, Diebe, Brandstifter und Àhnliches geworden : und haben doch
eigentlich nichts erlebtâ (GW 8, 1075). Diese eigentĂŒmliche Wahrnehmungs-
und Erlebnislosigkeit der (mÀnnlichen) Kriegsgeneration von 1914/18, deren
Befund mit dem von Walter Benjamin diagnostizierten Kursverfall der Erfah-
rung angesichts des Stellungskriegs, der Materialschlachten, der Inflation und
des politischen Bankrotts kongruiert5, wird von Musil als Komplement eines
menschlichen Unvermögens zur VerĂ€nderung prĂ€sentiert : âDas Leben geht
doch genau so dahin wie frĂŒher [âŠ]. Wir waren [âŠ] vielerlei und haben uns
dabei nicht geÀndert, wir haben viel gesehen und dabei nichts wahrgenom-
men.â (GW 8, 1075 f.)6 Spricht Musil mit diesen SĂ€tzen generell einer anthro-
3 Vgl. Vatan : Musil et la question anthropologique, S. 57 : âPar âamorphismeâ, il faut entendre
lâabsense de forme propreâ. âNegative Anthropologieâ wird im Folgenden nicht im Hinblick auf
den Menschen als âMĂ€ngelwesenâ mit unzureichender physischer Ausstattung verstanden (so
der Ansatz von Arnold Gehlen), sondern im Sinn einer Abkehr von der Suche nach fest umris-
senen Menschenbildern (vgl. den Ansatz von Ulrich Sonnemann) â in Analogie zur ânegativen
Theologieâ, der zufolge eine positive Wesensbestimmung Gottes unmöglich und Gott nur via
negationis beschreibbar ist.
4 So auch Groppe : âDas Theorem der Gestaltlosigkeitâ, S. 83 f.; Bonacchi : Die Gestalt der Dich-
tung, S. 170.
5 Vgl. Benjamin : Der ErzÀhler, S. 439 ; ders.: Erfahrung und Armut, S. 214 ; dazu Honold : Die
Stadt und der Krieg, S. 25â29.
6 Zur These der inneren UnverĂ€nderlichkeit des Menschen trotz der extremsten Ă€uĂeren VerĂ€n-
					
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						Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
							Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
								
							
				- Title
 - Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
 - Subtitle
 - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
 - Author
 - Norbert Christian Wolf
 - Publisher
 - Böhlau Verlag
 - Location
 - Wien
 - Date
 - 2011
 - Language
 - German
 - License
 - CC BY-NC-ND 3.0
 - ISBN
 - 978-3-205-78740-2
 - Size
 - 15.5 x 23.0 cm
 - Pages
 - 1224
 - Keywords
 - Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
 - Category
 - Geisteswissenschaften
 
Table of contents
- Vorbemerkung 9
 - Einleitung 11
 - TEIL I : GRUNDLEGUNG
 - TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
				
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
 - 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
 - Erben und Enterbte 344
 - Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
 - Mann mit Eigenschaften 378
 - Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
 - Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
 - Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
 - Aufsteiger und Gebremste 482
 - Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
 - Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
 - Terroristen und Propheten 548
 - Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
 - eingast, Faschist und Schwerenöter 584
 - Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
 - Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
 - Gefallene Geliebte 643
 - Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
 - Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
 - Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
 - Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
 - Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
 - Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
 - Angepasste und Dissidentinnen 708
 - Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
 - Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
 - 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
 - Ehen in der Krise 781
 - Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
 - Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
 - Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
 - Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
 - Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
 - Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
 - Liebesversuche jenseits der Ehe 885
 - Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
 - Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
 - Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
 - Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
 - 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
 - Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
 - Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
 - Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
 - Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
 - Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
 - BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
 
 - BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
 - TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
 - Literaturverzeichnis 1169
 - Musil-Texte 1169
 - Andere Quellen 1169
 - Nachschlagewerke 1176
 - Allgemeine Forschungsliteratur 1176
 - SekundÀrliteratur zu Musil 1193
 - Register 1208