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81Grundlagen
der Poetik Musils
er am 3. MĂ€rz 1933 in einem Brief an die Berliner Malerin Else Meidner, die
Frau des expressionistischen Maler-Dichters Ludwig Meidner, die sich ange-
sichts der eigenwilligen ĂuĂerungen Graf Leinsdorfs âĂŒber die Judenfrageâ40
besorgt ĂŒber das geplante weitere Romangeschehen gezeigt hatte ; Musil be-
zieht sich dabei unĂŒbersehbar auf sein Gestaltlosigkeitstheorem : â[A]lle mo-
ralischen Verhaltensweisen variieren wohl individuell und sozial, sind aber
nach meiner Ansicht weniger erbmĂ€Ăig als erziehungs- und umstandsmĂ€Ăig
bedingt ! Im ersten Band spreche ich sogar wiederholt davon, ja es ist einer
seiner GrundsĂ€tze, daĂ man beinahe aus allem alles machen könnte.â (Br
1, 564) Die vom Autor ausdrĂŒcklich hervorgehobene âerziehungs- und um-
standsmĂ€Ăige Bedingtheitâ der âmoralischen Verhaltensweisenâ des Roman-
personals lĂ€sst eine Interpretation geboten erscheinen, die â im Unterschied
zu den bisher vorgelegten sozialwissenschaftlich interessierten Untersuchun-
gen41 â den Romantext programmatisch als (selbst wiederum sozial bedingte)
Gesellschaftskonstruktion behandelt. Dabei wird dem besonderen Interesse
Musils fĂŒr den âinneren Menschenâ (GW 8, 1029) auch ein besonderes Au-
genmerk zu widmen sein â gleichermaĂen fĂŒr dessen FĂŒhlen wie fĂŒr sein von
der Literatur hÀufig vernachlÀssigtes Denken (vgl. MoE 111).
âGestaltlosigkeitâ begegnet im veröffentlichten Romantext zwar nur an einer einzigen Stelle :
Er wird hier Leo Fischel als Ahnung in den Mund gelegt, die aus dessen verzweifeltem und
hoffnungslosem Aufbegehren gegen den grassierenden Antisemitismus resultiert : â[S]o begann
er, [âŠ] die tiefe Nichtigkeit des seelischen Lebens zu ahnen, seine Gestaltlosigkeit, die ewig die
Gestalten wechselt, die langsame, aber ruhelose UmwĂ€lzung, die immer alles mit sich dreht.â
(MoE 207) SinngemÀà findet sich das Theorem aber auch an zahlreichen anderen Stellen, etwa
in Ulrichs Aussage : âWir sind eine Masse, die jede Form annimmt, in die sie auf die eine oder die
andere Weise hineingerĂ€t.â (MoE 413 ; vgl. auch MoE 361 u. 414)
40 Vgl. MoE 843â845 ; zu dieser Problematik auch die AusfĂŒhrungen zur Figur Leo Fischels im
Kap. II.2.1.
41 Vgl. etwa Böhme : Anomie und Entfremdung, S. 306, der Musil als Vertreter âdes unbezĂŒglichen
Möglichkeitsdenkens in den 20er Jahrenâ bezeichnet : âDer âentwurzelte Intellektuelleâ (Musil)
stilisiert seine Ortlosigkeit zum wahren Ort des Geistigen umâ. Ăhnlich Blasberg : Krise und
Utopie der Intellektuellen, S. 220 : âMusil begreift Erkenntnis nicht in AbhĂ€ngigkeit von so-
zialen Rollen, er stellt keine Kausalrelation zwischen sozialhistorischem Umfeld und geistiger
Reflexion her.â Abgesehen davon, dass Musil tatsĂ€chlich wenig von Kausalrelationen im gesell-
schaftlichen Bereich hÀlt, ist diese Behauptung zumindest missverstÀndlich formuliert : Musil
lehnt einerseits die in der Postmoderne wiederauferstandene Vorstellung einer vollkommenen
historischen und sozialen RelativitÀt mathematischer und naturwissenschaftlicher SÀtze ab (vgl.
GW 8, 1045 f. u. 1433 ; M VI/1/24 u. 64), betont andererseits aber stets die sozialen Bedingun-
gen der Möglichkeit von Erkenntnis und geistiger TÀtigkeit (vgl. GW 8, 1042, 1091 u. 1269).
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208