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90 Teil I: Grundlegung
Diese Einsicht gilt in der Moderne fĂŒr das Individuum ganz generell, wie Ul-
rich im GesprÀch mit Diotima betont :
Das Ich verliert die Bedeutung, die es bisher gehabt hat, als ein SouverÀn, der Regie-
rungsakte erlĂ€Ăt ; wir lernen sein gesetzmĂ€Ăiges Werden verstehn, den EinfluĂ seiner
Umgebung, die Typen seines Aufbaus, sein Verschwinden in den Augenblicken der
höchsten TÀtigkeit, mit einem Wort, die Gesetze, die seine Bildung und sein Verhal-
ten regeln. [âŠ] Denn da Gesetze wohl das Unpersönlichste sind, was es auf der Welt
gibt, wird die Persönlichkeit bald nicht mehr sein als ein imaginÀrer Treffpunkt des
Unpersönlichen, und es wird schwerhalten, fĂŒr sie jenen ehrenvollen Standpunkt zu
finden, den Sie nicht entbehren mögen ⊠(MoE 474)
Die kritische Diagnose vom Bedeutungsverlust des individuellen Lebens62
stĂŒtzt sich nicht allein auf die als gleichsam mystisches Erlebnis erfahrene
Massenhysterie bei Kriegsausbruch oder auf den in diesem Zusammenhang
ebenfalls hĂ€ufig genannten psychophysischen Monismus Ernst Machs, ĂŒber
den Musil promoviert hat63, sondern ebenso auf Erkenntnisse von ganz an-
derer Seite, die in der Literatur vor ihm noch kaum eine Rolle spielten : Ge-
meint sind zum einen die genuin âmodernenâ Wissenschaftsdisziplinen der
Statistik und der mathematischen Wahrscheinlichkeitstheorie, zu denen Mu-
sil in seinem Arbeitsheft 10 nach Kriegsende umfangreiche Exzerpte angelegt
hat64, zum anderen die medizinische Psychologie, mit der er sich seit seinem
Studium und besonders in den zwanziger Jahren intensiv auseinandersetzte65,
62 Mehr dazu bei Groppe : âDas Theorem der Gestaltlosigkeitâ, S. 74â77 u. 83 f.
63 Zur Vorstellung der âPersönlichkeitâ als âimaginĂ€rer Treffpunkt des Unpersönlichenâ und zur
Gesetzlichkeit ihres âWerdensâ und âVerschwindensâ vgl. Mach : Die Analyse der Empfindungen,
S. 294 : âDieselben Elemente hĂ€ngen in vielen VerknĂŒpfungspunkten, den Ich [sic], zusammen.
Diese VerknĂŒpfungspunkte sind aber nichts BestĂ€ndiges. Sie entstehen, vergehen und modifi-
zieren sich fortwĂ€hrend. Was aber augenblicklich nicht verknĂŒpft ist, beeinfluĂt sich eben nicht
merklich.â Genaueres dazu in Kap. I.3.1. Goltschnigg : Die Bedeutung der Formel âMann ohne
Eigenschaftenâ, S. 330, weist unter Berufung auf eine Studie Henri Arvons darauf hin, âdaĂ Mu-
sil im Roman die Grenzen seiner Dissertation ĂŒberschreitet, in der die Behandlung des Mach-
schen Ich fehltâ.
64 Vgl. die ausfĂŒhrlichen Notizen im Arbeitsheft 10 (Tb 1, 459â469), in denen sich Musil vor allem
auf Heinrich Emil Timerdings Analyse des Zufalls (1915) bezieht. Dazu Moser : Diskursexperi-
mente im Romantext, S. 185 ; Hoffmann : âDer Dichter am Apparatâ, S. 217â222 ; Pott : Geist
und Macht, S. 222 f.; besonders aber Bouveresse : Das âPrinzip des unzureichenden Grundesâ,
S. 124â143 ; Vatan : Musil et la question anthropologique, S. 101â133.
65 Vgl. etwa die expliziten Verweise auf Ernst Kretschmers Medizinische Psychologie (1922) in GW
8, 1141 u. 1214 ; Belege einer intensiven Rezeption finden sich in M I/1/16, M II/9/166, M
III/4/23 u. 51, M IV/3/287, M V/4/19, 108 u. 109, M IV/3/75 u. 105 sowie in Tb 1, 595 u. 785.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208