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104 Teil I: Grundlegung
sie gehören, von sich im ganzen hat. Die vergangenen Jahrhunderte haben vielleicht
einen schweren Irrtum begangen, indem sie auf Verstand und Vernunft, auf Ăberzeu-
gung, Begriff und Charakter zu viel Wert legten ; es war so, wie wenn man Registratur
und Archiv fĂŒr den wichtigsten Teil eines Amts halten wollte, weil sie ihr BĂŒro in
der Zentrale haben, obgleich sie nur HilfsĂ€mter sind, die ihre Weisungen von auĂen
empfangen. (MoE 408)
Vor dem Hintergrund solcher Einsichten, die das idealistische, ja jedes deduk-
tive Denken und prinzipiengeleitete Handeln radikal depotenzieren, scheint
eine abstrakte, systematisch-philosophische Behandlung die Welt nicht mehr
adĂ€quat zu erschlieĂen â das vielleicht im partiellen Unterschied zu frĂŒheren
Epochen.91 Bereits in seiner wissenschaftstheoretischen Doktorarbeit Beitrag
zur Beurteilung der Lehren Machs (1908) hat Musil gleich eingangs konstatiert :
âDie Zeiten sind vorbei, wo das Bild der Welt in Urzeugung dem Haupte des
Philosophen entsprang.â (BLM 15) Im GesprĂ€ch mit seinem Freund, dem Ge-
neral Stumm von Bordwehr, lĂ€sst sich denn auch Ulrich recht sarkastisch ĂŒber
die intellektuelle PrĂ€tention der ĂŒberkommenen idealistischen Systemphiloso-
phie Ă la Hegel92 aus :
[E]s mögen ungefĂ€hr hundert Jahre her sein, da haben die fĂŒhrenden Köpfe des
deutschen Zivils geglaubt, daĂ der denkende BĂŒrger die Gesetze der Welt an seinem
Schreibtisch sitzend aus seinem Kopf herleiten werde, so wie man die SĂ€tze von den
Dreiecken beweisen kann ; und der Denker war damals ein Mann in Nankinghosen,
der das Haar aus der Stirn schleuderte und noch nicht die Petroleumlampe, geschweige
denn die ElektrizitĂ€t oder ein Phonogramm kannte. Diese Ăberhebung ist uns seither
grĂŒndlich ausgetrieben worden ; wir haben in diesen hundert Jahren uns und die Natur
und alles sehr viel besser kennen gelernt, aber der Erfolg ist sozusagen, daĂ man alles,
was man an Ordnung im einzelnen gewinnt, am Ganzen wieder verliert, so daĂ wir
immer mehr Ordnungen und immer weniger Ordnung haben. (MoE 379)
91 Vgl. dazu folgende ErlĂ€uterung des ErzĂ€hlers : âFreilich ist das Leben diesen Weg immer gegan-
gen, es hat den Menschen bestĂ€ndig von auĂen nach innen umgebaut ; aber frĂŒher mit dem Un-
terschied, daĂ man sich verpflichtet fĂŒhlte, von innen nach auĂen auch etwas hervorzubringen.â
(MoE 408)
92 Zur Kritik an Hegels objektivem und optimistischem Idealismus vgl. auch einen Eintrag Musils
in sein Arbeitsheft 19 aus den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg : âEs gibt Leute, welche in der
Geschichte an gewisse immanierende Ideen glauben. An eine Selbstentfaltung des Geistes. An
Fortschritt. Dieser Glaube eignet sich vortrefflich zur Banalisierung, wie die Kriegspropaganda
unsrer Feinde gezeigt hat.â (Tb 1, 540) Mehr dazu bei Freese : AnsĂ€tze einer Hegel-Satire in
Musils âMann ohne Eigenschaftenâ ; Haslmayr : Die Zeit ohne Eigenschaften, S. 64 f.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208