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107Grundlagen
der Poetik Musils
Bereits in einem um 1910 entstandenen essayistischen Fragment, das offen-
bar den âerste[n] poetologische[n] Versuch Musilsâ darstellt100 und von FrisĂ©
unter dem Titel Form und Inhalt veröffentlicht wurde, finden sich Reflexionen
ĂŒber die spezifischen Möglichkeiten der fiktionalen und fingierenden Lite-
ratur gegenĂŒber dem faktualen Essay. Darin bemerkt der noch junge Autor,
jedem Roman liege wie auch jedem theoretischen Text âein âProblemââ zu-
grunde, doch : âDieses Problem darf in Sachprosa nicht zu behandeln sein.â
Es könnte zwar âim Essay behandelt werdenâ, aber : âDas Problem im Essay
behandelt wĂ€re ermĂŒdend, schleppend.â (GW 8, 1300 f.) Die unterschiedli-
chen Leistungen verkörpernder und diskursivierender Darstellungsverfahren
sind Musil zufolge eng mit dem âmerkwĂŒrdige[n] VerhĂ€ltnis von Denken und
Tunâ verknĂŒpft. Seine frĂŒhen Ăberlegungen mĂŒnden in die Feststellung, das
Getane sei im Unterschied zum bloĂ Gedachten âein fordernd gewordenes
Spiegelbildâ und fĂŒhre â im gegenwĂ€rtigen Kontext noch wichtiger â âleben-
dig gewordene Konsequenzen sonst wieder verloren gegangener Dinge in
unsâ vor Augen. Die Erkenntnis der normativen und exemplarischen Wirkung
literarisch konstruierter sozialer Praxis hat eminente poetologische Implika-
tionen : âMan spricht Gedanken im Roman [âŠ] nicht aus, sondern lĂ€Ăt sie
anklingen. Warum wÀhlt man dann nicht lieber den Essay ? Eben weil diese
Gedanken nichts rein Intellektuelles sind, sondern ein Intellektuelles verfloch-
ten mit Emotionalem. Weil es mÀchtiger sein kann, solche Gedanken nicht
auszusprechen, sondern sie zu verkörpern.â (GW 8, 1301) Wie das Modalverb
âkannâ des zuletzt zitierten Satzes leise andeutet, gibt es indes auch Gedan-
ken, die einer ausschlieĂlich verkörpernden Darstellung gar nicht zugĂ€nglich
sind. Der erst spÀter entwickelte essayistische ErzÀhlstil des Mann ohne Ei-
genschaften wird deshalb darauf zielen, die jeweiligen Vorteile der beiden Dar-
stellungsverfahren zu wechselseitigem Gewinn miteinander zu verbinden und
eine strenge Grenzziehung zwischen fiktionaler Literatur und faktualem Essay
produktiv zu subvertieren.101
100 So Bonacchi : Die Gestalt der Dichtung, S. 126.
101 Eine theoretische Reflexion dieser Strategie, welche die in Form und Inhalt angestellten Be-
trachtungen wieder aufnimmt, findet sich im Abschnitt âDer Geist des Gedichtsâ des Aufsatzes
Literat und Literatur (vgl. GW 8, 1211â1217). Angesichts der im Korrekturdurchgang bemerk-
ten âĂberladenheit des Romans mit Essayistischemâ erklĂ€rt sich Musil in einem recht resigna-
tiven Eintrag seines Arbeitshefts 31 vom 9. MĂ€rz 1930 das gröĂere âGedĂ€chtnis fĂŒr Faktischesâ
u. a. damit, dass âwir Intellektuelles nicht im objektiven Zustand bewahren, sondern es uns
einordnenâ, sowie mit der entwicklungspsychologischen Hypothese, dass âTatsachenberichte
an eine viel ursprĂŒnglichere Einstellung oder Funktion sich wenden. Gefahrstellung ; der Ur-
mensch muĂ Vorkehrungen treffen, wenn ihm berichtet wird, da und dort sei etwas geschehen.
Möglicherweise ist die Form dieser Reaktion noch in uns erhalten. Ich kann mir freilich nicht
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208