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117Grundlagen
der Poetik Musils
ErzÀhlpraktisch ergibt sich daraus etwa die Technik der narrativen Ausspa-
rung und bloà impliziten Andeutung von wichtigen Elementen der erzÀhlten
Handlung, die den Lesern suggeriert : â[I]n der Zwischenzeit ist also etwas ge-
schehen, das nicht erzĂ€hlt wurdeâ, woraus folgt, dass âdie Personen [âŠ] nicht
nur an ihren Stellen im Buch, sondern selbstĂ€ndig [leben]â (M II/1/145),
âauch dort wo sie nicht erscheinenâ ; âsie kommen und gehen, und stets et-
was verĂ€ndertâ (Tb 1, 149).118 Wie Musil zu Beginn seiner Arbeit am groĂen
Roman anmerkt, wĂŒrde man diese âWirkungâ durch eine ausdrĂŒckliche âau-
thorial intrusionâ hingegen âzerstörenâ (M II/1/145). Es ist offensichtlich, dass
der spÀter fertiggestellte Text des Mann ohne Eigenschaften mit seinen vielen
essayistischen Passagen und auch mit seinen bisweilen ausfĂŒhrlichen Hinter-
grundinformationen ĂŒber einzelne wichtige Figuren dieser erzĂ€hltechnischen
Maxime keineswegs uneingeschrÀnkt folgt und dennoch ein Eigenleben der
Figuren nahelegt. Anders verhÀlt es sich aber mit den im gegenwÀrtigen Zu-
sammenhang zentralen Prinzipien der Figurenkonstitution, die dort durch-
aus den Ă€lteren konzeptionellen Ăberlegungen entsprechen. âDie Kunst des
Schreibens besteht darin, Situationen zu schaffen, die das zu Sagende den
Personen gemÀss machen, andrerseits es so auszuwÀhlen, suggestive Kno-
tenpunkte so auszuwĂ€hlen, dass die Personen nicht viel zu sagen haben.â (M
II/1/145) Ăberbordende GesprĂ€chspassagen gibt es im Mann ohne Eigenschaf-
ten gar nicht so oft â zu beobachten sind sie vor allem zwischen Ulrich und
Agathe im fragmentarischen kanonischen und im apokryphen Dritten Teil.
Was die spezifische Charakterkonstitution seiner nur in bestimmter Hin-
sicht âeigenschaftslosenâ Hauptfigur angeht119, die ja â im Unterschied etwa
zu dem als Durchschnittsmensch angelegten Protagonisten Hans Castorp im
Zauberberg â unter intellektuellen Lesern durchaus identifikatorische Projekti-
onen auszulösen vermag, lÀsst sich Musil ebenfalls von seinen psychotechni-
schen Kenntnissen inspirieren. âDer Mensch als soziales Tier möchte sich aus-
zeichnen, gelobt werden. Daher die Suggestivkraft des Mutigen, Starken udgl.
Aus dem gleichen Grunde auch die Vorliebe fĂŒr die Tugend. Als Kind möchte
jeder gut, schön, reich, stark sein.â (M II/1/144) Musil entscheidet sich dem-
entsprechend fĂŒr einen zwar nicht sonderlich aktiven, aber durchaus positiven
und starken â weil selbstĂ€ndigen, gutaussehenden, wohlhabenden und sport-
118 Texttheorien, die diese Suggestion der ErzÀhlung prinzipiell in Abrede stellen, gleichen unfrei-
willig einer Marotte der Mrs. Ramsay aus Virginia Woolfs Roman To the Lighthouse, die von der
ErzĂ€hlstimme in erlebter Rede mitgeteilt wird : â[I]t was extraordinary to think that they had
been capable of going on living all these years when she had not thought of them more than
once all that time.â (Woolf : To the Lighthouse, S. 133 [Tl. 1, 17. Kap.])
119 Vgl. dazu Kap. I.3.1.
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208