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135Grundlagen
der Poetik Musils
der Film ein einheitliches Schönheitsideal als allgemeines Ziel der Zuchtwahl
suggeriert, wird er einen einheitlichen Typus der weiĂen Rasse bewirken.â181
Von solcher normierter Einheitlichkeit könne auch die menschliche Selbster-
kenntnis nur profitieren, wie eine ĂŒberraschende Aktualisierung des altehr-
wĂŒrdigen Nosce-te-ipsum-Postulats in Aussicht stellt : â[W]enn der Mensch
einmal ganz sichtbar wird, dann wird er trotz verschiedenster Sprachen im-
mer sich selbst erkennen.â182
Zur ausfĂŒhrlichen Diskussion der Ă€sthetischen Implikationen solcher The-
sen zieht der Kritiker Musil die damals avanciertesten Ergebnisse aus Psycho-
logie und Ethnologie heran.183 ZunÀchst jedoch legitimiert er selbst den Film
durch die scheinbar despektierliche Bemerkung, dieser sei âeine Abspaltungâ,
was â wie er gleich hinzufĂŒgt â allerdings fĂŒr jede Kunst gelte : â[S]ein verstĂŒm-
meltes Wesen als ein auf bewegte Schatten reduziertes Geschehen, das den-
noch die Illusion des Lebens erzeugtâ (GW 8, 1138 f.), mĂŒsse deshalb nicht
als Defizit verstanden werden. Medialer Bezugspunkt der Abspaltungsthese
ist der Stummfilm, der in den zwanziger Jahren noch das Kinoerlebnis prÀgte.
In Musils Worten : âStumm wie ein Fisch und bleich wie Unterirdisches
schwimmt der Film im Teich des Nursichtbarenâ (GW 8, 1139). An der durch
den fehlenden Ton, vor allem durch die fehlende Sprache erzielten Aufmerk-
samkeitsfokussierung auf das optische Feld (âVerschiebungâ) und der durch die
Farblosigkeit bewirkten Konzentration der nuancenreichen Farbpalette der
Natur in harte Kontraste (âVerdichtungâ)184 Ă€ndert auch die seinerzeit ĂŒbliche
VorfĂŒhrung âmit Musikbegleitung und kommentierendem KinoerzĂ€hlerâ185
wenig, weil diese nicht als inhÀrente Bestandteile des Mediums Film, sondern
nur als Elemente der AuffĂŒhrungssituation galten. Die medial induzierte Re-
duktion ist Musil zufolge aber nicht nur hier zu beobachten, sondern ebenso
bei âgothische[n] [sic] oder barocke[n] Skulpturenâ, die âmit ihren wie SĂ€bel
gekreuzten GebĂ€rden [âŠ] den Eindruck einer Katatonikerversammlung in
einem Irrenhausâ erwecken186, oder bei den âKlangbewegungen selbst eines
181 BalĂĄzs : Der sichtbare Mensch, S. 22.
182 Ebd., S. 23.
183 Hinsichtlich der obskuren rassentheoretischen ĂuĂerungen BalĂĄzsâ, die dafĂŒr nicht unbedingt
relevant sind, hĂ€lt er sich vornehm zurĂŒck.
184 Vgl. Hoffmann : âDer Dichter am Apparatâ, S. 159.
185 So Gnam : âLeben in Hypothesenâ, S. 131, zur ErgĂ€nzung des Musilâschen Bildes.
186 Dieses Bild und sein entwicklungsgeschichtlicher Anspielungshorizont wird im Mann ohne Ei-
genschaften zur Beschreibung der Skulpturensammlung Arnheims herangezogen, die bei ihrem
Besitzer und Betrachter âdie Ahnung [âŠ] eines FrĂŒhzustands der Seeleâ weckt (MoE 187).
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208