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140 Teil I: Grundlegung
an sichâ haben, erweist sich Musil, der Kunst weniger âals einen Schnörkel,
denn [als] eine Verneinung des wirklichen Lebensâ ansieht (GW 8, 1140),
ĂŒberdies als treuer SchĂŒler der antiapollinischen Kunstphilosophie Nietzsches
sowie als Geistesbruder seines Romanprotagonisten Ulrich.200 Auf der Basis
seiner Analogievorstellung beharrt er dennoch auf dem âlebensverneinenden
Charakterâ des Kunstwerks, auf dem âGegensatz zur normalen Welthaltungâ,
der sich in ihm ausdrĂŒcke, was sich allein schon an den Mitteln ablesen lasse,
âderen sich die KĂŒnste bedienenâ :
Von Verdichtung und Verschiebung abgesehen, die beide einer vorzivilisatorischen
Phase der Menschheit entspringen, zielen zum Beispiel Rhythmik und Monotonie,
die eine so groĂe Rolle spielen, auf eine Einengung des BewuĂtseins, die der leichten
Hypnose Àhnlich ist, mit dem gleichen Ziel, die prÀsentierte Suggestion durch Herab-
drĂŒcken der seelischen Umgebung ĂŒberwertig zu machen. Ihre letzte Wurzel haben
alle diese Mittel in sehr alten KulturzustÀnden [!] und insgesamt bedeuten sie eine
auĂerbegriffliche Korrespondenz des Menschen mit der Welt und abnormale Mit-
bewegung, deren man ĂŒbrigens in jedem Augenblick inne werden kann, wenn man,
vertieft in ein Kunstwerk, plötzlich kontrollierendes NormalbewuĂtsein einschaltet.
(GW 8, 1141)
Das hier angedeutete Umschalten vom âanderenâ zum ânormalenâ Zustand,
von der âEinengung des BewuĂtseinsâ zu dessen neuerlicher Ausweitung
beschreibt eine charakteristische Kippfigur201, die fĂŒr Musils spezifische Be-
stimmung zeitgemĂ€Ăer Dichtung noch von zentraler Bedeutung sein wird.
Bezeichnend ist ĂŒberdies die bereits angedeutete Insistenz auf der prĂ€histo-
rischen Herkunft der aus einer allgemeinen anthropologischen Konstitution
hergeleiteten Voraussetzungen der Wirkungsweise von Kunst :
Liest man die genialen Beschreibungen, welche LĂ©vy-Bruhl in seinem Buch âLes fon-
ctions mentales des sociĂ©tĂ©s primitivesâ vom Denken der Naturvölker gegeben hat,
namentlich die Kennzeichnung jenes besonderen Verhaltens zu den Dingen, das er
Partizipation nennt, so wird der Zusammenhang mit dem Kunsterlebnis an vielen
Stellen derart fĂŒhlbar, daĂ man glauben kann, in diesem eine spĂ€te Entwicklungsform
jener FrĂŒhwelt [!] vor sich zu haben ; es wĂ€re ungemein wichtig, wenn die Ă€sthe-
200 Vgl. den Reflex dieses Sachverhalts in MoE 367 u. 573.
201 Deren medientechnischen und gestaltpsychologischen Hintergrund rekonstruiert ĂŒberzeugend
Hoffmann : âDer Dichter am Apparatâ, bes. S. 167 f. u. 172â184, wobei er diesen einen diskursi-
ven Kontext allerdings absolut setzt. Vgl. auch Bonacchi : Die Gestalt der Dichtung, S. 203â207.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208