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143Grundlagen
der Poetik Musils
Bruhl das âGesetz der Partizipationâ genannt hat. UntrĂŒgliches Indiz dafĂŒr ist
seine von Musil zustimmend zitierte Bemerkung, âdaĂ das Bild jedes Gegen-
stands eigentlich einen inneren Zustand bedeutetâ (GW 8, 1142).211
Auf welchen anthropologischen Strukturen beruht nun âdie Mystik des
Films oder zumindest seine Romantikâ, die vom âphysiognomischen Eindruckâ
der Dinge, von ihrem âsymbolischen Gesichtâ hervorgebracht wird ? Musil
versucht ausdrĂŒcklich, die Frage âim Umfang der normalen Psychologieâ zu
âerklĂ€renâ, und setzt sich damit augenfĂ€llig von den proliferierenden parapsy-
chologischen und antirationalistischen Deutungen vieler Zeitgenossen und
Kollegen ab. Er benennt zunĂ€chst einen âGefĂŒhlston, der mit den VorgĂ€n-
gen zusammenhĂ€ngtâ, die er zuvor âals Abstraktion und Abspaltung erwĂ€hntâ
hatte, und rekurriert daraufhin wiederum auf die Gestalttheorie :
Indes sind psychologische ZusammenhÀnge fast immer so verflochten, daà ein Gan-
zes zwar durch seine Einzelheiten bestimmt wird, die Einzelheiten aber auch durch
das Ganze ; deshalb, wenn EindrĂŒcke ĂŒberwertig und befremdlich werden, sobald sie
sich aus ihrer gewohnten Umrahmung lösen, deutet es die Vermutung eines andren,
apokryphen Zusammenhangs an, in den sie eintreten. In diesem Fall wÀre es gewis-
sermaĂen eine nachgiebige Stelle in unserem, mit dem Anschein unerschĂŒtterlicher
Festigkeit sich umgebenden Weltbild [âŠ]. (GW 8, 1142 f.)
Musil verweist bei dieser Gelegenheit auch auf âjene VerĂ€nderung unseres Be-
wuĂtseins, dem Novalis und seine Freunde ihre groĂen und wundersamen
Erlebnisse verdankt habenâ (GW 8, 1143). In der Folge entwickelt er seine
bereits angedeutete und hinlĂ€nglich bekannte These, wonach âsich durch die
ganze Geschichte der Menschheit eine Zweiteilung [âŠ] in zwei Geisteszu-
stĂ€ndeâ ziehe, nĂ€mlich in den âNormalzustand unserer Beziehungen zu Welt,
Menschen und eigenem Ichâ und in einen âZustand der Liebeâ, âder GĂŒte, der
Weltabgewandtheit, der Kontemplation, des Schauens, der AnnÀherung an
Gott, der EntrĂŒckung, der Willenlosigkeit, der Einkehrâ etc., ebenjenen viel
zitierten âanderen Zustandâ, der durch âein geheimnisvoll schwellendes und
ebbendes ZusammenflieĂen unseres Wesens mit dem der Dinge und anderen
Menschenâ (GW 8, 1144) gekennzeichnet sei.212 Befinde man sich in diesem
211 In BalĂĄzs : Der sichtbare Mensch, konnte dieser von Musil zitierte Satz nicht nachgewiesen
werden ; vgl. aber zum unmittelbaren Kontext ebd., S. 70.
212 Wie die Rede von der âganzen Geschichte der Menschheitâ belegt, geht es Musil bei seinem
Konzept des âanderen Zustandsâ keineswegs um die Ăberwindung der âzivilisatorischen Er-
rungenschaftenâ, um ein kompensatorisches âKorrektiv zivilisatorischer Deformationâ oder
gar um eine Reetablierung âarchaische[r] Formen des Erlebensâ, was GrĂ€tz : Psychopathologie
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208