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154 Teil I: Grundlegung
verstanden werden soll, darf sich vom bereits Bekannten nicht zu weit entfernen.
So unvergleichlich sich das Unsagbare zuweilen in einer GebÀrde, einer Konfigura-
tion, einem GefĂŒhlsbild oder einem Geschehnis ausdrĂŒcken kann, so geschieht es
doch immer nur in der unmittelbaren Nachbarschaft des Wortes, gleichsam als etwas
Schwebendes, um dessen festen Sinn, der das eigentliche Element der Menschlich-
keit ist. (GW 9, 1718)
Musil zufolge hÀngt die Interpretation von ErzÀhlliteratur im Unterschied zur
Deutung anderer KĂŒnste nicht vom mitgebrachten âReichtum an Interpretati-
onshilfenâ der Rezipienten ab, sondern kann vom expliziten âAusdrucksreich-
tumâ der Werke selbst befördert werden, wodurch dieser also die intellektuelle
âVerarbeitungâ unmittelbar im Kunstgenuss â und nicht erst retrospektiv239
â zu stimulieren sowie etablierte Wahrnehmungs- und Deutungsmuster zu
sprengen vermag.240 Daraus resultiert fĂŒr ihn das gröĂere Differenzierungs-
potenzial der Literatur, wohingegen er die traditionelle Àsthetische Doktrin,
dass âder Geist und das Denken der Menschenâ in der kĂŒnstlerischen Dar-
stellung ânicht unmittelbar ausgedrĂŒckt werden dĂŒrfeâ, bloĂ als âhartnĂ€ckiges
Vorurteilâ abqualifiziert (GW 9, 1718). Voraussetzung dafĂŒr und zugleich Folge
davon ist die in den AnsĂ€tzen zu neuer Ăsthetik zwar implizite, aber umso for-
ciertere Revalorisierung der extradiegetischen ErzÀhlstimme, die Musil mit
Entschiedenheit gegen alle Konventionen der damals etablierten ErzÀhllite-
ratur betrieben hat, weshalb er bis heute immer wieder der erzÀhltechnischen
Antiquiertheit241 oder gar der erzÀhlerischen UnfÀhigkeit geziehen wird.242
Aus all diesen Ăberlegungen lĂ€sst sich folgende These ableiten : Musil
entwickelt in der intermedialen Auseinandersetzung mit dem Film bzw. mit
dessen damals avanciertester Theorie nicht nur seine Vorstellung vom âan-
deren Zustandâ â und damit die Basis seines Ă€sthetischen Konzeptes ĂŒber-
haupt243 â, sondern vollzieht damit auch und nicht zuletzt eine prononciert
239 Vgl. dagegen ebd., S. 134. Insofern wÀre auch folgender Befund Vermettens zu relativieren, der
ihrer zentralen These verpflichtet ist : âDer Akzent wird von Musil auf den Rezipienten gelegt.â
(S. 128)
240 Dabei sollte freilich nicht unterschlagen werden, dass sich die ânicht-ratioĂŻdeâ Bildlichkeit auch
innerhalb der essayistischen ErzÀhlstimme Musils findet, die somit nicht allein der im engeren
Sinn rationalen Reflexion âratioĂŻderâ und ânicht-ratioĂŻderâ Sachverhalte dient.
241 Vgl. zuletzt Becker : Von der âTrunksucht am TatsĂ€chlichenâ, bes. S. 159 f.
242 Vgl. Pars pro Toto die in der Einleitung diskutierte und nicht sonderlich originelle, ja sÀmtliche
GemeinplÀtze aufgreifende Totalvernichtung von Reich-Ranicki : Der Zusammenbruch eines
groĂen ErzĂ€hlers, S. 187â193, bes. S. 193.
243 Vgl. dazu etwa Heydebrand : Die Reflexionen Ulrichs, S. 105 f.; weniger hilfreich : Stefanek :
Illusion, Ekstase, Erfahrung ; Kortian/Nercessian : Lâart moderne est-il si primitif ?
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book Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208