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166 Teil I: Grundlegung
eigenen âIchâ bzw. des eigenen Willens (vgl. MoE 474), das auf Musils intensive
BeschÀftigung mit Ernst Machs psychophysischem Monismus in Die Analyse der
Empfindungen zurĂŒckgefĂŒhrt werden kann.2 In dieser Schrift, die zu den bekann-
testen diskursiven PrĂ€texten der âEigenschaftslosigkeitâ zĂ€hlt, heiĂt es : âDas Ich
ist keine unverĂ€nderliche, bestimmte, scharf abgegrenzte Einheit.â Mehr noch :
âNicht das Ich ist das PrimĂ€re, sondern die Elemente (Empfindungen). [âŠ] Die
Elemente bilden das Ich.â3 Aus solchen Ăberlegungen entwickelt Mach die pro-
vokante âForderungâ an seine Leserschaft, das âIch fĂŒr nichts zu achten, dasselbe
in eine vorĂŒbergehende Verbindung von wechselnden Elementen aufzulösenâ.4
Eine ironische Variation dieses durchaus auch ethisch gemeinten Postulats
eines Verzichts auf âinnere Identifikationâ5 mit dem eigenen Ich und seinen
Eigenschaften â das der Angemessenheit der hĂ€ufig in Anschlag gebrachten
normativen geschichtsphilosophischen Kategorie âEntfremdungâ von vornhe-
rein den Boden entzieht â begegnet im Ausgang des 4. Musilâschen Romanka-
pitels : â[D]a der Besitz von Eigenschaften eine gewisse Freude an ihrer Wirk-
lichkeit voraussetzt, erlaubt das den Ausblick darauf, wie es jemand, der auch
sich selbst gegenĂŒber keinen Wirklichkeitssinn aufbringt, unversehens wider-
fahren kann, daĂ er sich eines Tages als ein Mann ohne Eigenschaften vor-
kommt.â (MoE 18) Wendet man diese Definition ins Positive, dann ist ein
Mann ohne Eigenschaften nicht nur ein Mensch, der sich selber nicht so ernst
nimmt, sondern zudem einer, der sich weniger mit dem Wirklichkeitssinn als
vielmehr mit dem Möglichkeitssinn betrachtet6, der also im eigenen Denken
und Handeln die Reproduktion etablierter Denk- und Verhaltensweisen durch
die Schaffung neuer zu ersetzen sucht.
2 Vgl. etwa Laermann : Eigenschaftslosigkeit, S. 3â6 ; Goltschnigg : Die Bedeutung der Formel
âMann ohne Eigenschaftenâ, S. 328â331 ; Frank : Auf der Suche nach einem Grund, S. 319â331.
3 Mach : Die Analyse der Empfindungen, S. 19.
4 Ebd., S. 290.
5 In einer Notiz von 1927/28 legt Musil seinem damals noch Anders genannten Helden die
Selbstbezeichnung als âMann ohne Eigenschaftenâ in den Mund, weil ihm â trotz der Teilhabe
an âalle[n] guten konventionellen GefĂŒhle[n]â und des Vermögens, sich âzu benehmenâ â âdie
innere Identifikationâ mit sich selber fehle (M II/4/120). Dinklage : Musils Definition des Man-
nes ohne Eigenschaften und das Ende seines Romans, S. 112, bezieht diese Aussage fÀlschlich
auf den Autor selber. Zur Ablehnung eines âmit sich identische[n] SelbstbewuĂtsein[s]â durch
Mach vgl. Frank : Auf der Suche nach einem Grund, S. 325. Wenig Evidenz vermittelt m. E.
dagegen Franks Versuch, Musils negative Ich-Konzeption aus der frĂŒhromantischen Vorstellung
von âIchheitâ abzuleiten, die vor allem Novalis als âEinheit, ohne Schranke und Bestimmungâ
entwickelt hat und die bei Husserl als âdas reine Ichâ wiederkehrt, das âvon allem unterschie-
denâ sei, âwas noch als âseiendâ bezeichnet werden kannâ (ebd., S. 331â333).
6 Vgl. Kap. I.3.2.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Title
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Subtitle
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Author
- Norbert Christian Wolf
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 1224
- Keywords
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Category
- Geisteswissenschaften
Table of contents
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208